Was unbedingt unterm Baum liegen muss, ist daher klar. Vor allem weil die gebürtige Holzwickederin Musik liebt. Das Singen, die Klänge, den Bass. Laut muss es sein. Und: die Töne müssen stimmen. Ob das auch der Fall ist, weiß Jessi, wie sie genannt werden will, immer. Denn sie hat ein absolutes Gehör, also die Fähigkeit, die Höhe eines beliebigen gehörten Tons ohne Hilfsmittel exakt zu bestimmen. Einem Chorleiter sagte sie schon als Kind, dass er falsch singt, erzählt sie und lacht. Das Singen im Chor ist schon lange her. Mittlerweile singt sie in der Band der Blindenwerkstatt. Musik ist einer der Aspekte, der für sie Weihnachten ausmacht. Gemeinsames Singen sowieso.
Und ja, sie freut sich auch auf den Baum, nicht nur auf das, was darunter liegt. Sie kann ihn nicht sehen, das ist richtig, sagt die 29-Jährige. „Aber ich kann ihn riechen. Und fühlen.“ Der ganze Raum riecht nach Tanne, wenn der Baum aufgestellt wurde. Und Jessi nimmt den Duft intensiver wahr. Nicht, weil sie besser riechen kann als Sehende, aber weil sie sich mehr darauf konzentriert, wie es die Wissenschaft erklärt.
Jessi schüttet sich einen Kaffee im Speiseraum ein. Dafür hält sie einen Finger in der Tasse und wartet, bis der Kaffee ihre Fingerspitze berührt. In der Weihnachtszeit trinkt Jessi am liebsten Glühwein, wie sie sagt. Schmecken kann man Weihnachten nämlich auch, erklärt die 29-Jährige. Das gilt ebenso für Plätzchen, die das ganze Haus in Valbert dazu duften lassen.
Seit 2016 verbringt Jessica Baroth Weihnachten in Valbert, weil ihre Mutter in dem Jahr starb. Heiligabend trifft man sich in einer Wohngruppe, singt und isst zusammen. „Immer richtig leckeres Essen“, sagt Jessica. Fehlen wird ihr dieses Wochenende nur ihr Partner, Hassan Yakar. Mit dem 33-Jährigen ist sie seit dem 9. September zusammen, weiß sie noch auf Tag genau. Frisch verliebt sind und wirken die beiden. Der 33-Jährige weicht ihr nicht von der Seite.
Die Weihnachtstage aber wird er bei seiner Familie sein, auch wenn er als Muslim das Fest nicht feiern wird. Trotzdem stellte sich für seine Freundin die Frage, ob sie ihm etwas schenken darf. „Kein Problem“, sagte Hassan und lachte. Wer kriegt schon nicht gerne Geschenke? Der 33-Jährige hatte bereits eine kleine Überraschung für seine Freundin: Eine selbst gebastelte Karte mit einem Herz zum Fühlen. Dazu ein paar Worte, die zeigen, was Hassan in Jessi blind sehen kann: „Du hast ein gutes Herz, frohe Weihnachten.“ Und am Ende steht „Knutschi, Knutschi, dein Hassan“, erzählt Jessi. Mit allen Sinnen, die sie noch haben, lieben sie, aber vor allem mit dem Herzen.
Weihnachten ist aber auch die Zeit der Familie und Liebe. Die meisten, die im Wohnheim in Valbert leben, verbringen die Feiertage Zuhause. Julia Ballhause zum Beispiel lebt ohnehin bei ihrer Mutter in Plettenberg und kommt nur zum Arbeiten in die Werkstatt. Die Weihnachtszeit beginnt für sie, wenn ihre Mutter beginnt das Haus zu schmücken, sagt sie. Dabei hilft sie dann, wenngleich sie nicht sehen kann, wie es geschmückt aussieht. Zumindest nicht mit den Augen. In ihrer Erinnerung sieht sie noch alles. Die 22-Jährige kam nicht blind auf die Welt, sondern erblindete aufgrund eines Hirntumors, der im Kindesalter festgestellt wurde. Sie weiß, was ein Tannenbaum ist, kann ihn sich vorstellen. Viele andere haben nur ein Bild im Kopf, das sie sich durchs Fühlen bilden, erklärt die Plettenbergerin. Farben aber kann man zum Beispiel nicht erklären. Rot und Gold? Das kennen geburtsblinde Menschen nicht. Deshalb ist ihre Welt aber dennoch bunt.
Beim Gehör ist es anders als beim Geruchssinn. Blinde Menschen lernen, die fehlende Sehkraft durch den Hörsinn zu kompensieren, was neurologisch sogar nachgewiesen werden kann. Bei Menschen, die von Geburt oder früher Kindheit an blind oder wesentlich sehbehindert sind, entwickelt sich das Gehirn anders, sodass Blinde besser Töne lokalisieren können, was wichtig für die Orientierung ist. Wie anders die Sinneswahrnehmung ist, zeigt sich auch darin, dass blinde Menschen andere Geräusche als angenehm empfinden. Solche, die für Sehende Krach sind, können für Blinde angenehm sein. Straßenverkehr und Kettensägen etwa, weiß auch Elisabeth Sachs, die den Werkstattbereich in Valbert leitet.
Jessica freut sich deshalb ganz besonders auf Silvester und ist schon in Gedanken eine Woche weiter. Feuerwerk am Himmel kann sie zwar nicht sehen, aber hören. „Ich hoffe, wir haben wieder Knallfrösche“, sagt die 29-Jährige. Und wenn es dann 0 Uhr ist, „dann macht es Bumm, Bumm, Bumm!“, sagt Jessi laut und freut sich schon drauf. Dann ist auch Hassan wieder da und das Paar kann gemeinsam ins neue Jahr feiern.