Völlig offen sei aus ihrer Sicht beispielsweise, auf welchem persönlichen Entwicklungsstand sich die Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, tatsächlich befinden. Es gebe Kinder in diesem Alter auf einem Stand von 17, ebenso aber auch von 8 Jahren, sagt sie aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus. Und ebenso unklar sei, wie das familiäre Umfeld der mutmaßlichen Täterinnen aussehe, ob sie schon früher möglicherweise als empathielos aufgefallen seien, ob der Missbrauch sozialer Medien eine Rolle gespielt haben könnte. Gerade in dieser Alterslage nähmen die elektronischen Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle ein und wirkten bis in die Kinderzimmer und in die Nacht hinein.
Eine pauschale Aussage zu einer Herabsetzung der Altersgrenze zu einer früheren Strafmündigkeit lasse ohne eine umfassende Würdigung der Umstände ihrer Einschätzung nach nicht treffen, auch wenn es eine Entschuldigung für die Tat nicht geben können, allenfalls Versuche einer Erklärung. Klar ist aus ihrer Sicht nur eines: „Da sind drei Leben kaputt.“
Der ganzen Tragik der Geschehnisse in Freudenberg ist sich auch Ansgar Röhrbein bewusst und unterstreicht sein Mitgefühl mit den Betroffenen. Eine Erklärung oder gar Diagnose der Tat und Täterinnen aus der Ferne verbiete sich, sagt der Leiter des Märkischen Kinderschutz-Zentrums. Aber er kennt auch die zahlreichen Faktoren, die die Kindheit und Jugend heute von der vor 20 oder 30 Jahren vor allem im digitalen Bereich unterscheidet. „Ich habe heute die Möglichkeit, jemanden zu diskreditieren, ohne ihm ins Gesicht schauen zu müssen“, sagt Röhrbein mit Blick auf WhatsApp oder andere Messenger-Dienste sowie vermeintlich soziale Netzwerke. Diese seien „ideal für schnelle aggressive Impulse“. Und es sei schnell, sozusagen aus dem Bauch heraus, „ein „Stein“ geworfen – „ohne Besonnenheit oder Abwägung, welche Folgen das für das Gegenüber haben könnte“, sagt der Diplom-Pädagoge.
Je nachdem, welche Konsequenzen die Kinder und Jugendlichen daraufhin erlebten, könnten aus der Aggressivität im Netz auch analoge Handlungen werden, deren Folgen insbesondere Kinder nicht absehen könnten. Eine detaillierte Bewertung der Gesamtumstände und Verantwortlichkeiten könne nur nach intensiven Gesprächen mit psychologischen Fachkräften erfolgen, betont der Leiter des Kinderschutz-Zentrums. In der Diskussion um die Strafmündigkeit, die in Deutschland erst mit 14 Jahren beginnt, stellt er fest: „Wir haben zwei Facetten: Zum einen die körperliche Reife, die immer früher beginnt.“ So setze die Menarche, also erste Regelblutung, bei immer mehr Mädchen schon im Alter von zehn Jahren und früher ein. „Andererseits geht es aber auch um eine beginnende psychische Reife, die in jedem Fall eine Rolle spielt und die erst ab dem 14. Lebensjahr angenommen wird.“ Eine Diskussion in Bezug auf die Absenkung des Alters der Strafmündigkeit sei aus seiner Sicht nicht zielführend und bräuchte zuvor eine gute Daten- und Forschungslage.
In jedem Fall sollten die Erwachsenen mit gutem Beispiel vorangehen und anderen gegenüber Respekt erweisen, um einem gewissen – von der Fachwelt – wahrgenommenen „Verfall von Werten“ nicht nur bei jungen Menschen zu begegnen. „Das ist eine Aufgabe der Gesellschaft, der Familie und natürlich der Jugendhilfe. Wir brauchen Vorbilder´statt Feindbilder“, sagt Ansgar Röhrbein.