Bei Chlordioxid handelt es sich um ein vergleichbares Mittel, für das Donald Trump als gespritztes Medikament gegen Corona geworben hatte. Eigentlich wird es als Desinfektionsmittel zur Reinigung von Swimmingpools oder zum Bleichen von Textilien verwendet.
Rein zufällig sei er darauf aufmerksam geworden, dass sein Vater täglich Poolreiniger beziehungsweise Bleichmittel zu sich nehme, blickt der Sohn zurück. Mehrere Tropfen täglich. Auf die Frage, was das denn für ein Mittel sei, habe der Vater nicht geantwortet. „Schon da bin ich misstrauisch geworden. Habe aber nicht weiter nachgehakt.“ Außerdem sind ihm beim Vater körperliche Veränderungen aufgefallen. „Er pfeift beim Treppensteigen wie eine Dampflok, zudem hat er stark abgenommen. Durchfall und Erbrechen sind auch schon vorgekommen.“ Dann habe plötzlich auch noch der Enkel mit einem Buch da gestanden, erinnert sich der Sohn. Das Werk habe ihm der Opa empfohlen, er solle das darin beschriebene Mittel auch einmal ausprobieren.
Es ist das Buch mit dem Titel „Gesundheit verboten“ von dem Biophysiker Andreas Ludwig Kalcker. Dort wird Chlordioxid als MMS (Miracle Mineral Supplement) bezeichnet, als Wundermittel beworben, das gegen tödliche Krankheiten wie Aids oder auch Schizophrenie helfen soll. „Jede Krankheit ist Energiemangel“, steht dort geschrieben. Impfgegner und Verschwörungstheoretiker, die sich auch als Forscher und Wissenschaftler bezeichnen, haben eben dieses Chlordioxid zu einer Art Wundermittel gegen Corona erklärt. Und nicht nur das: Es soll gegen unzählige andere Krankheiten wirken – von Arthrose bis Zysten. Sogar als Heilmittel gegen gefährliche Krebsarten wie Gebärmutterkrebs oder Leberkrebs wird es beworben. Zudem sei damit Autismus behandelbar, heißt es.
Er pfeift beim Treppensteigen wie eine Dampflok, zudem hat er stark abgenommen. Durchfall und Erbrechen sind auch schon vorgekommen.
„Was für ein Schwachsinn. Das Buch ist nur für die Mülltonne geeignet“, findet der Sohn. Das sei schon ziemlicher Quatsch. Auch wenn es ein Forscher geschrieben habe und darin Wissenschaftler zu Wort kommen würden. Gucke man genauer hin, dann seien diese Wissenschaftler mit Doktortitel aber eben keine Mediziner. „Das ist reine Augenwischerei. Diese Menschen wollen mit der Angst und Unsicherheit anderer Geld verdienen“, kritisiert er. Die Corona-Pandemie hätten diese Menschen ausgenutzt, um solche angeblichen Arzneien als Wundermittel anzupreisen, ergänzt er.
Der Sohn möchte nun nicht nur seinen Vater unbedingt davon abbringen, das giftige Mittel zu konsumieren, sondern auch die Öffentlichkeit alarmieren, weil es längst kein Einzelfall mehr in Deutschland und der restlichen Welt sei. „Auch deshalb wende ich mich an die Zeitung.“ Die Dunkelziffer der Desinfektionsmittel-Trinker schätzt der Sohn als hoch ein. „Es gibt bereits Todesfälle in Ländern wie Argentinien wegen der Einnahme von Chlordioxid“, weiß der Sohn. In dem südamerikanischen Land habe die Bundesstaatsanwaltschaft mittlerweile Anzeige gegen Andreas Ludwig Kalcker und 20 weitere Menschen erhoben.
Immer noch kann der Halveraner es kaum fassen, dass ausgerechnet sein Vater auf so einen Betrug reinfallen würde. Er sei aus allen Wolken gefallen. Niemand habe bis dahin angenommen, dass der Vater Desinfektionsmittel trinke. „Ich habe nichts Böses geahnt. Mein Vater war eigentlich immer ein gut informierter und aufgeklärter Mensch. Er hat jeden Morgen die Zeitung gelesen und hat am politischen Geschehen teilgenommen“, erzählt der Halveraner. Er habe seinen Vater dann zur Rede gestellt, daraufhin sei klar geworden, was die vergangenen zwei Jahre mit ihm gemacht hätten. Mit Corona sei die Isolation gekommen. Weder Maske tragen noch Abstand halten oder das Impfen habe der Vater mitgemacht. Treffen mit Freunden hätten daraufhin gar nicht mehr stattgefunden.
Der Vater habe aufgehört, Zeitung zu lesen und habe die Nachrichten im Fernsehen nicht mehr verfolgt. Stattdessen seien die Internetseiten mit Verschwörungsmythen und die Chats von Coronaleugnern immer wichtiger geworden. „Er hat angefangen, diesen Verschwörungsschrott zu glauben“, sagt der Sohn kopfschüttelnd. Es fielen in Gesprächen und Diskussionen plötzlich Begriffe wie „Big Pharma“, „DDR“ oder Sätze wie „die da oben, die verarschen uns doch eh nur“. Als der Sohn seinem Vater das Mittel wegnehmen wollte, sei der Vater aggressiv geworden und hüte es seitdem wie einen kleinen Schatz. Auch Diskussionen hätten bislang nichts gebracht. „Er schwört weiterhin auf Chlordioxid.“
Zudem sei das Mittel leicht im Internet erhältlich; „Mein Vater muss ja nur ein paar Clicks tätigen.“ Warum es noch nicht verboten worden sei oder warum es noch möglich sei, über Anbieter wie Amazon Chlordioxid als Medikament zu bekommen, diese Frage stellt sich der Sohn. „Menschen, die Chlordioxid als Heilmittel anpreisen, machen sich strafbar“, findet er. Es sei ja ein schleichender Selbstmord, den die Menschen begehen würden, wenn diese die Tropfen jeden Tag zu sich nehmen. „Was in Argentinien möglich ist, muss auch in Deutschland gehen“, findet der Sohn bezüglich einer Strafanzeige.
Eine Warnung vor Chlordioxid spricht der Halveraner Arzt Dr. Wilhelm Tilenius aus: „Unbedingt von so etwas die Finger lassen. Poolreiniger gehört nicht in den Körper.“ Er habe schon einmal einen Fall gehabt, indem ein Patient regelmäßig einen Reiniger getrunken habe. „Dieser Patient ist letztendlich an den Verätzungen durch dieses Reinigungsmittel gestorben“, warnt Tilenius, der eine Praxis an der Bahnhofstraße 2 in Halver hat.
Auch Apotheker Dr. Gunther Fay rät eindringlich von der Einnahme von Chlordioxid ab. „Es ist eine Chemikalie, die nichts im Körper zu suchen hat, und die wir nicht an unsere Kunden herausgeben“, sagt Fay. Und seit 2001, den Anschlägen auf das World Trade Center, gäben Apotheken so oder so keine Chemikalien mehr an Privatpersonen heraus. „Die Gefahr, dass mit solchen Chemikalien Missbrauch getrieben wird, ist einfach viel zu groß“, erklärt der Lüdenscheider Apotheker. Im Körper könne diese je nach Dosierung schwere Schäden an den Organen hervorrufen. „Eine mögliche Nebenwirkung kann ein Nierenversagen sein“, sagt Fay. Besonders problematisch sei die Tatsache, dass solche chemischen Verbindungen so einfach im Internet zu bekommen seien.
Als Apotheker kann ich Menschen nur raten, bevor sie irgendwelche Mittel bestellen, sich zuerst von Fachleuten beraten zu lassen.
Man müsse überlegen, ob man als Gesetzgeber solche Angebote im Internet verbietet, findet Fay. „Als Apotheker kann ich Menschen nur raten, bevor sie irgendwelche Mittel bestellen, sich zuerst von Fachleuten beraten zu lassen“, empfiehlt er. Und bezüglich Trumps Vorschlag, das Mittel zu spritzen, warnt er erst recht. „Gespritzt wirkt Chlordioxid noch viel gefährlicher, weil es direkt ins Blut geht.“ Eindringlich warnt die Verbraucherzentrale auf ihrer Homepage vor dem Konsum von Chlordioxid. „Chlordioxid wirkt auf Haut und Schleimhaut je nach Konzentration reizend bis ätzend“, heißt es dort. Besonders seien Kinder aufgrund ihres geringen Körpergewichts stark gefährdet.
Im Falle des Halveraners sind es aber eben auch Senioren, die auf den Schwindel mit vermeintlichen Wundermitteln hereinfallen. Der Sohn hofft jedenfalls, dass sein Vater bald wieder vernünftig wird. Eines steht aber fest: Sollte sich der Gesundheitszustand des Vaters allerdings demnächst weiter akut verschlechtern, dann werde er umgehend härter durchgreifen, ist sich der Sohn sicher. Zunächst werde noch viel diskutiert. Tatenlos werde er beim körperlichen Niedergang seines Vaters wegen eines Desinfektionsmittels nicht zuschauen.