25 Jahre Hausarzt im MK: „Es gibt nichts Besseres, das ist das Leben“

25 Jahre Hausarzt in Halver: Dr. Reimer Böhm im Gespräch über das Hausarztdasein damals und heute, die Sicherung der hausärztlichen Versorgung für die Zukunft und die Ärgernisse des Alltags.
Halver - Am 19. Februar 1998 erteilte der Zulassungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen für den Regierungsbezirk Arnsberg II seine Zustimmung: Seitdem hat Dr. Reimer Böhm seine Zulassung, in Halver als Hausarzt tätig zu sein.
Am Sonntag feierte Böhm, der eigentlich aus Neumünster stammt und seit 1991 in Wipperfürth lebt, sein Silberjubiläum als Hausarzt in Halver.
Im Gespräch mit Thomas Machatzke schaut der 61-jährige Internist und Palliativmediziner auf ein Vierteljahrhundert zurück – und auch voraus.
25 Jahre Hausarzt im MK: „Es gibt nichts Besseres, das ist das Leben“
Dr. Böhm, Sie sind im Norden aufgewachsen, haben in Bochum und Köln studiert, im Bergischen und Oberbergischen gearbeitet. Warum ist es bei der Praxiswahl der Standort Halver geworden?
1997 war ich nach Gummersbach gegangen, um etwas Anderes zu machen. Das Krankenhaus in Wermelskirchen, in dem ich gearbeitet hatte, hätte mir für meine persönliche Entfaltung alle Möglichkeiten geboten, aber nicht für meine fachliche. Ich dachte, ein akademisches Lehrkrankenhaus könnte es sein.
Aber dann wurde es doch eine eigene Praxis…
Ja, aber im Oberbergischen Kreis gab es keine Praxen, die frei wurden. Oder die Praxisübernahme war sehr kostspielig. Ich habe dann auf der Karte mal übers Rheinland hinausgeschaut, und da war: Westfalen! Rönsahl oder Halver. Dann habe ich mir ein Jahresabo für den Westfälischen Ärzte-Anzeiger besorgt. Da wurde die Praxis in Halver ausgeschrieben.
Wer war der Vorbesitzer?
Der Kollege Hermann Hochhuth. Der Preis für die Praxis war für mich okay. Die Praxis war relativ klein, am Stadtrand. Am Anfang war das gut zu stemmen finanziell. Der Umzug an die Frankfurter Straße war dann eher eine finanzielle Belastung. Dass man nach einem Jahr in die Innenstadt umziehen musste, war gut, denn am Starenweg gab es keine Laufkundschaft. Hier war das besser. Apotheke und Arztpraxis – das passt gut.
Wie war das Arztsein in Halver am Anfang?
Ich hatte vorher nur ab und zu mal einen Arzt vertreten, hatte drei Nachmittage bei Doktor Hochhuth mitgemacht, um reinzuschauen in den Hausarztbereich. So war ich schon auf mich gestellt. In der Praxis arbeitete Frau Müller, die auch noch bis vor zwei Jahren unserer Praxis treu geblieben ist. Die konnte mir zu jedem Patienten etwas sagen. Das war gut und hilfreich. Auch die Tochter von Herrn Hochhuth arbeitete in der Praxis. Die beiden kannten die Patienten, ich hatte meinen geschützten Raum. Es lief langsam an. Da war ich froh, wenn am Vormittag mal 15 Patienten kamen, und ich bin mittags zum Essen nach Hause gefahren. Heute undenkbar.

Die Praxis ist gewachsen – wie kam es zur Idee, mit einem weiteren Arzt zusammen zu arbeiten?
In Wermelskirchen gibt es einmal im Jahr ein Assistenzarzt-Treffen, ein Martinsgans-Essen. Ich hatte mit Matthias Zöpfgen zwar zeitgleich in Wermelskirchen gearbeitet, aber nie auf einer Station. Wir sind dort ins Gespräch gekommen, ich habe ihm vom Hausarztdasein berichtet. Das einzige, was mich medizinisch gestört hatte, ist eben das ärztliche Alleinearbeiten. Man glaubt sich nachher selbst. In der Klinik war das anders. Ich bin eigentlich eher ein Teamplayer. Aber in der Praxis hockt man alleine, hat wenig Rückkopplung für den einzelnen Fall.
Mit anderen Worten: Der zweite Mann sollte Ihnen im Austausch gut tun.
Ja, ich habe erzählt, dass es mir zu zweit in einer Gemeinschaftspraxis noch viel besser gefallen könnte. Matthias Zöpfgen war interessiert und wollte wissen, wo die Praxis ist. Klar war zu dieser Zeit, dass die Apotheke anbauen würde. Als Nachfolger von Dr. Clement aus Schalksmühle wechselte Matthias Zöpfgen dann nach Halver. Das war möglich, weil man im gleichen Bereich Lüdenscheid, Schalksmühle, Halver blieb. Die persönliche Entscheidung zur Arbeit in einer Gemeinschaftspraxis hat Vorteile und Synergieeffekte. Es war eine gute Entscheidung.
Ist das auch von den Halveranern so gespiegelt worden? Größere Praxis, mehr Möglichkeiten?
Das kann ich gar nicht beurteilen. Man macht für dieselbe Krankheit ja trotzdem nicht mehrere Abklärungen.
Haben sich Dinge verändert in den 25 Jahren?
1997 wurden die Budgets eingeführt. Bis dahin wurden alle erbrachten Leistungen ohne Abschlag vergütet. Die Einführung der Budgets führte dazu, dass bei Überschreitung einer gewissen Menge nicht mehr alle Leistungen bezahlt wurden. Heute gibt es dagegen viele Pauschalen. Was geblieben ist, ist die Einschätzung, was eine gute Versorgung ausmacht. Wenn ich heute einen Patienten beim Neurologen vorstellen will, muss der Patient erst einmal lange warten. Das musste er vor 20 Jahren auch, aber längst nicht so lange wie heute. Es besteht ein Unterschied zwischen einer ausreichenden und einer guten Versorgung. Die Krankenkassen verpflichten uns zu einer ausreichenden Versorgung, das Bürgerliche Gesetzbuch zu einer guten. Damals wie heute.
Notdienste bis ins Jahr 2011 noch im Halveraner „Sprengel“
Gab es noch andere Veränderungen?
Die Notdienste haben wir bis 2011 noch in Halver in unserem Sprengel ausgeübt. Mittwochs, samstags und sonntags gab es einen gemeinsamen Notdienst. Ansonsten war jeder Hausarzt an Werktagen offiziell 24 Stunden erreichbar. Heute wählt man die 116117, es gibt die zentrale Notdienstpraxis in Hellersen und den Fahrdienst. Was sich eben nicht verändert hat im Notdienst: Es gibt Leute, die sich in den Vordergrund drängen und nichts Schlimmes haben, die aber nicht warten können. Und es gibt andere, sehr zurückhaltende, die schwer krank sind, bei denen wir es vielleicht gar nicht mitkriegen. Aber das war auch schon vor 25 Jahren so.
Wie war es, mit den Halveranern umzugehen? Die Sauerländer sind ein eigener Menschenschlag?
Ich komme aus dem Norden, da reden die Menschen auch nicht so viel. Das war also okay für mich. Ich habe wahrscheinlich einen anderen Humor. Als Arzt muss man sich die Dinge anschauen und zuhören. Da erzählen die Halveraner schon. Und wenn nicht gleich, dann halt beim nächsten Mal. Nein, die Halveraner haben es mir nie schwer gemacht.
Wird man in einer so langen Zeit selbst ein Stück weit zum Sauerländer?
Die ruhige, bodenständige Art vieler Sauerländer beeinflusst einen schon.
Sie haben 2008 noch einen neuen Weg eingeschlagen, sich stark in der Palliativ-Medizin engagiert...
Ich habe als Hausarzt erlebt, dass es Phasen gibt, in denen die Menschen einfach nicht mehr ins Krankenhaus wollen. Es gab dann manchmal keine gute Lösung, auch wenn der Pflegedienst mit der Familie alles versucht hat. Du kannst ja als Hausarzt nicht ständig daneben sitzen. Deshalb habe ich die palliativ-medizinische Weiterbildung gemacht. Und dann wurde die Einrichtung der palliativ-medizinischen Konsiliardienste gefördert. So haben wir – gemeinsam mit dem Kollegen Kämpfe aus Lüdenscheid und dem Kollegen Ha aus Olpe – versucht, die Lücke zu füllen und einen Dienst gegründet. Es wurde eine Struktur geschaffen. Der Dienst besteht auch heute noch mit acht engagierten Kollegen und den Palliativ-Care-Schwestern.
In so eine Palliativrolle muss man hineinwachsen. Hätten Sie sich das als junger Arzt auch schon vorstellen können?
Nein, das ist eine Erkenntnis des Hausarztdaseins. Es gibt Fälle, in denen die ambulante Palliativ-Situation hilfreich sein kann. Früher sind viele Leute im Krankenhaus gestorben, auch wenn sie lieber ihre letzten Tage zu Hause verbracht hätten.
Corona war da in vielerlei Hinsicht auch eine schwere Zeit…
Ja, genau. Die Begleitung im Sterbefall war eine große gesellschaftliche Katastrophe. Die Leute durften ihre Angehörigen nicht begleiten, und das wäre vermutlich machbar gewesen. Erst im Laufe der Corona-Zeit durfte dann vielleicht ein Angehöriger für die letzten Tage stundenweise ins Zimmer.
Viele Ältere haben es auch gar nicht verstanden...
Ja, das war schlecht. Meine Mutter hatte in dieser Zeit einen Schlaganfall und musste in die Kurzzeitpflege. Bei allen Vorsichtsmaßnahmen hätte man das besser machen und besser kommunizieren müssen. Ich denke, die Altenheime hatten die Direktive von oben. Alle haben Angst gehabt, auch davor, sich selbst anzustecken.
Sie sind im Palliativ-Dienst dann kürzer getreten.
Ja, Ende 2019 bin ich aus dem PKDLO ausgeschieden. Ich habe einen Enkel und wurde der Mittwochs-Opa! Zudem hatte ich das Gefühl, in der Praxis zu wenig zu machen für die Dinge im Hintergrund. Planung und Struktur kamen zu kurz. Mein Motto ist: Stillstand ist Rückschritt. Es muss ja auch Spaß bringen, man muss auch mal etwas Neues machen.
Als Arzt muss man sich die Dinge anschauen und zuhören. Da erzählen die Halveraner schon. Und wenn nicht gleich, dann halt beim nächsten Mal. Nein, die Halveraner haben es mir nie schwer gemacht.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel hatte ich in Halver auch den Qualitätszirkel der Hausärzte ins Leben gerufen und fünf Jahre betreut. Mit Vorträgen oder auch mit Gästen, die dann referiert haben. Anfangs haben wir uns im Halvara getroffen, später in der Heesfelder Mühle. Inzwischen macht das der Kollege Hartmut Rohlfing. Im Palliativnetz Lüdenscheid bin ich immer noch Vorsitzender. Wir hatten mit Purple Schulz den zehnten Geburtstag im Kulturhaus feiern wollen, aber da hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie haben festgestellt, dass sie vor allem auch für Halver eine hausärztliche Versorgung sicherstellen wollen. Was heißt das?
Die Praxis bleibt sicher erhalten. Ich bin über 60 und mache mir natürlich Gedanken über die nächsten Jahre. Ich werde sicherlich nicht noch mal 25 Jahre praktizieren. Der Wunsch ist, dass die Hausarztversorgung gut gesichert bleibt. Welche Rolle mir dabei zufällt, muss man sehen. Ich habe gehört, dass es in Halver in Zukunft auch ein MVZ, ein Ärztliches Versorgungszentrum, geben soll. Sicher ein guter Ansatz. Viele Kollegen wollen sich nicht mehr niederlassen. Die finanziellen Bedingungen sind schwierig, die Bürokratie ist aufgeblasen. Schwierigkeiten mit der Digitalisierung…
Inwiefern?
Jüngstes Beispiel ist das E-Rezept. Das sollte im September eingeführt werden und wurde wegen Nicht-Gelingens wieder zurückgezogen. Da ist viel Geld verbrannt worden.
Inwiefern?
Nehmen wir die Verbindung der Praxis mit den Krankenkassen, der KV und untereinander: Wir haben einen Connector bekommen, eine Blackbox, die einen VPN-Tunnel generiert. So können wir im Medizinwesen kommunizieren. Aber die Connectoren haben nur eine Lebensdauer von fünf Jahren, dann müssen sie ausgetauscht werden. Der Tausch kostet 300 Millionen Euro. Das Geld fehlt im ambulanten Sektor, in den Krankenhäusern. Der Chaos-Computer-Club hat sich angeschaut, was in den Connectoren drinsteckt, und festgestellt: Klar könnte man die Software austauschen und Geld sparen. Oder nehmen wir das Bohei ums E-Rezept…
Erklären Sie es!
Das E-Rezept kam im Sommer, zumindest die Erprobungsphase. Aufgrund verschiedener Probleme ist es wieder zurückgestellt worden. Es gibt viele Sachen, die mich ärgern. Die patienten- bezogenen Daten und Rezeptverordnungen werden wohl nicht auf dem Chip gespeichert, sondern es wird nur der Zugang zur einem zentralen Rechner geschaffen. Das halte ich nicht für gut, denn wir wissen ja: Die Daten sind sicher wie die Rente. Es geht um epidemiologische Daten, um Daten für die Pharma-Industrie. Wie viele Asthmatiker gibt es in Dortmund noch, seit es kein Bergwerk mehr gibt? Müssen wir da noch was entwickeln? Oder doch lieber ein Demenzpräparat? Es geht um die Datenhoheit, nicht um den Patienten. Auch nicht um uns. Das kostet Zeit und Nerven, macht einen unzufrieden.
Weitere Beispiele?
Es ist vielleicht eine Klage auf hohem Niveau. Aber die GOÄ, also die Abrechnung der privaten Leistungen, ist unverändert seit 1996. 27 Jahre kein Inflationsausgleich. Das glaubt einem keiner. Seit vier Jahren basteln sie an einer neuen GOÄ herum. Aber es ist doch so: Alle beihilfe-berechtigen Beamten, für die Bund und Land zahlen, werden auch privat abgerechnet. Da hat der Staat doch gar kein Interesse daran, zu sagen: Okay, ihr kriegt jetzt den Inflationsausgleich.
Würden Sie einem jungen Kollegen noch dazu raten, Hausarzt zu werden?
Ich würde die Vor- und Nachteile aufzeigen. In den eigenen Räumen ist man zunächst schon mal sein eigener Herr. Es war für mich immer wichtig, dass ich im Sommer in den Urlaub gehen konnte, wann ich wollte. Ich könnte Dinge benennen, die wichtig sind, die ich damals auch noch nicht wusste: Man will auf der einen Seite emphatisch sein, muss sich aber eben zum Teil auch abgrenzen, damit man Kraft für den nächsten Tag hat. Das alles mit anderen in einer Gemeinschaftspraxis zu besprechen, ist wichtig. Viele jüngere Ärzte gehen deshalb gerne ins MVZ, lassen sich anstellen, und haben mit Verwaltungsdingen nichts mehr am Hut.
Nachvollziehbar?
Wenn man mir 1997 ein Oberarztgehalt angeboten hätte, bezahlte Dienste und auch noch dienstfrei, dann hätte ich gesagt: Ja, mach ich! Keine Investitionen, nur zum Teil die Bürokratie. Aber: Einer muss da sein, der abends die Praxis abschließt. Als Praxisinhalber bist du verantwortlich, wenn ausgekehrt wird. Das ist ja auch erfüllend, verhindert aber hin und wieder, dass du pünktlich ins Kino gehen kannst.
In Halver gibt’s ja ohnehin kein Kino mehr…
Glück gehabt! (lacht) Ich fahre ja ohnehin ins Kino nach Radevormwald. Nein, seit wir in unserer Praxis zu dritt sind, ist es auch bei uns entspannter. Das ist ein sehr gutes Arbeiten. Diese Größe der Praxis ist gut! Arzt zu sein, ist schon mit der beste Beruf, den man haben kann. Es gibt nichts Besseres, als mit Menschen etwas zu machen und ihnen zu helfen. Das ist das Leben. Da kann ich an der Börse noch so viele Nullen mit irgendwelchen Einsen irgendwo hinschieben. Mehr als in den Urlaub fahren, kann ich dann auch nicht. Es gibt viele, die anderswo ihre Erfüllung finden. Für mich wären auch Holzarbeiten interessant gewesen. Ein Schulfreund macht das und findet dort seine Erfüllung. Feuerwehrmann – im Team Menschen helfen – ist toll. Aber für mich kann ich sagen. Arzt zu sein, das ist schon gut!
Dr. Böhm, vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Dr. Reimer Böhm
- Aufgewachsen ist Dr. Reimer Böhm in Neumünster. Er stammt aus keiner klassischen Ärztefamilie.
- Nach dem Abitur leistete er zunächst bei der Marine seinen Wehrdienst.
- Als Studium hätte er sich auch gut Meeresbiologie vorstellen können, doch am Ende wurde es Medizin. Erst zwei Jahre in Bochum, danach in Köln, wo er auch seine heutige Ehefrau kennenlernte, mit der er seit 1991 in Wipperfürth lebt.
- Nach dem Studium absolvierte Böhm sein AIP (erster AIP-Jahrgang 1989) in Höxter und Hückeswagen, fing danach in der Abteilung für Innere Medizin in Wermelskirchen im Krankenhaus an.
- Nach sechs Jahren in Wermelskirchen zog es ihn 1997 nach Gummersbach und 1998 dann schließlich als Hausarzt nach Halver.
- Die Praxis an der Frankfurter Straße ist seit 2003 eine Gemeinschaftspraxis mit Dr. Matthias Zöpfgen, die größte Praxis in Halver.
- Böhm hat drei Kinder und ist inzwischen stolzer Großvater