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Der Traum vom ganz großen Coup

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Von: Thomas Busch, Lars Schäfer

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Bono.
Der große Rückhalt der WM-Überraschungsmannschaft: Torwart Yassine Bounou hat in den bisherigen fünf Spielen lediglich ein einziges Gegentor kassiert. © Imago/Andres Pina

In Marokko grassiert in diesen Tagen das, was in Deutschland vom ersten Turniertag an gar nicht erst aufkam: WM-Euphorie. Die Nationalmannschaft des Maghreblandes hat Sportgeschichte geschrieben und als erstes afrikanisches Team den Einzug ins Halbfinale einer Fußball-Weltmeisterschaft geschafft. Wenn die Marokkaner nun am Mittwochabend Titelverteidiger Frankreich fordern, ist aber längst nicht nur in Casablanca, Marrakesch oder der Hauptstadt Rabat Daumendrücken angesagt.

Märkischer Kreis – Am Anfang stand eigentlich eine „Todesgruppe“. Mit Kroatien der Vize-Weltmeister von 2018, mit Belgien der Dauer-Geheimtipp schlechthin, dazu die nicht zu unterschätzenden Kanadier – vor Marokkos Nationalmannschaft türmten sich schon in der Vorrunde schier unüberwindbare Hürden auf. „Jeder hat gedacht: In dieser Gruppe kannst du eigentlich gar nicht weiterkommen. Aber dann haben die Jungs uns und inzwischen auch die ganze Welt unglaublich positiv überrascht“, sagt Youssef Akhabach. Das Team wurde nicht nur Sieger der Gruppe F, sondern warf in der K.-o.-Runde auch noch Spanien und Portugal aus dem Wettbewerb.

Der Marokkaner Akhabach ist seit etlichen Jahren ein bekanntes Gesicht in der heimischen Fußballszene. In Lüdenscheid aufgewachsen und dort für die SpVg 28/32, Rot-Weiß und den MSV Lüdenscheid aktiv, ist der Familienvater mittlerweile in Meinerzhagen zu Hause. Mit dem Schwerpunkt Spieler-Scouting arbeitet der 45-Jährige im Sportausschuss des dortigen RSV mit und zählt überdies auch noch zum Kader der in der Kreisliga B aktiven 3. Mannschaft des Westfalenliga-Klubs. Youssef Akhabach ist ein positiv denkender Mensch, aber ganz bestimmt kein Träumer – und doch träumt in diesen Tagen natürlich auch er vom ganz großen Coup. „Wir haben nichts zu verlieren“, stellt er mit Blick auf das anstehende Vorschlussrundenduell der marokkanischen Mannschaft mit den Franzosen fest. Der Stellenwert, den die Erfolge der Fußballer in ihrer nordwestafrikanischen Heimat haben, ist immens: Sollte es tatsächlich noch zwei Schritte weitergehen, wird das Land um einen nationalen Feiertag reicher sein. Denn der Tag des möglichen WM-Sieges würde als solcher deklariert werden, wie König Mohammed VI. – Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie – bereits angekündigt hat.

Youssef Akhabach
Youssef Akhabach © Busch, Thomas

Nationaltrainer Walid Regragui hat es geschafft, aus der Mannschaft eine Einheit zu formen. Sein Credo: Egal, ob Berber oder Araber – alle sind Marokkaner!

Youssef Akhabach

Ob die Reise für die Schützlinge von Trainer Walid Regragui tatsächlich so weit gehen wird, bleibt natürlich abzuwarten. Doch stolz auf seine kickenden Repräsentanten ist der 37-Millionen-Einwohner-Staat schon jetzt. Begeisterung und Sympathie gehen inzwischen weit über Marokko selbst hinaus: Unabhängig vom wohl weltweit allgemeingültigen Reflex, es mit dem Außenseiter zu halten, wenn dieser nicht gerade auf die eigene Mannschaft trifft, fiebern auch jenseits der Sahara die Menschen mit dem Underdog. „Man hat das Gefühl, dass Afrika lebt“, umschreibt es Akhabach.

Die Nationalmannschaft des Maghreblandes als einender Vertreter eines ganzen Kontinents – Fußball macht’s möglich. Dazu muss man wissen: Das Team, das in diesen Tagen die Sportwelt begeistert, war in der Vergangenheit ein eher heterogenes Konstrukt. „Aber Nationaltrainer Walid Regragui hat es geschafft, aus der Mannschaft eine Einheit zu formen“, sagt Youssef Akhabach, „sein Credo ist es von Anfang an gewesen: Egal, ob Berber oder Araber – alle sind Marokkaner!“

Der Teamspirit, den Amrabat, Hakimi, Ziyech und Co. unter Regraguis Führung entwickelt haben, spiegelt sich vor allem in zwei Dingen wider. Da ist zum einen der bedingungslose Einsatzwille, zum anderen die gleichermaßen herausragende wie disziplinierte Mannschaftsleistung. „Defensiv arbeiten die Marokkaner überragend“, nennt Akhabach das Hauptcharakteristikum beim Namen. So hat Torwart Yassine Bounou in den bisherigen fünf WM-Spielen erst einen einzigen Gegentreffer kassiert. „Er hält im Moment einfach alles – so ein Glück brauchst du bei einem solchen Turnier, das gehört dazu“, weiß der marokkanische Wahl-Sauerländer und erinnert in diesem Zusammenhang an das bei der WM 2014 so starke Nachbarland Algerien: Im Achtelfinale hatte es seinerzeit den späteren Weltmeister Deutschland am Rande einer Niederlage, doch der nicht nur in dieser Partie herausragende Torhüter Manuel Neuer verhinderte das drohende Aus der DFB-Elf.

Abi Ouhbi
Abi Ouhbi © Thomas Machatzke

Das, was die Marokkaner bei dieser Weltmeisterschaft erreicht haben, ist absolut traumhaft. Wir genießen das alle, verspüren Demut und Dankbarkeit.

Abi Ouhbi

Zur womöglich entscheidenden Trumpfkarte könnte Keeper Bono – so lautet der Rufname der in Spanien beim FC Sevilla unter Vertrag stehenden Nummer eins Marokkos – nun auch im politisch durchaus brisanten Duell mit der Vertretung der einstigen Kolonialmacht Frankreich avancieren. Bei seinem Ausblick darauf beschränkt sich Youssef Akhabach auf den sportlichen Teil: „Eigentlich haben wir nur ein Problem – und das liegt vorne.“ Gemeint ist damit der vorderste Offensivbereich der marokkanischen Mannschaft: Dort ist Youssef En-Nesyri zwar der Top-Scorer des Teams, aufgrund der laufintensiven Spielweise fehlen ihm im Abschluss aber auch schon mal die letzten Körner. „Dass sich Amine Harit, der bei Olympique Marseille bislang eine starke Saison spielt, kurz vor der WM verletzt hat, ist natürlich schade“, bedauert Akhabach in diesem Kontext das Fehlen des Ex-Schalkers. Doch am Mittwoch spielt das ohnehin keine Rolle: „Wir können nur gewinnen“, benennt der Meinerzhagener das Motto des Abends. Denn für den Außenseiter gilt schlichtweg: Alles kann, nichts muss!

So sieht es auch der Lüdenscheider Abi Ouhbi, der bis zum Sommer dieses Jahres Trainer des TuS Neuenrade war und wie Akhabach im Fußballkreis Lüdenscheid auch wegen seiner Stationen beim FC Phoenix Halver, TSV Lüdenscheid oder KSC Atatürk Meinerzhagen bestens bekannt ist. „Das, was die Marokkaner bei dieser Weltmeisterschaft erreicht haben, ist absolut traumhaft. Wir genießen das alle, verspüren Demut und Dankbarkeit“, sagt der 51-Jährige, der in Marokko geboren ist und seit seinem neunten Lebensjahr in Lüdenscheid lebt.

Mit „Wir“ meint Abi Ouhbi nicht nur seine Brüder Farid (Trainer des B-Ligisten LTV 61) oder Najim (Spieler des Landesligisten Kiersper SC), sondern seine komplette Familie und natürlich viele, viele Freunde und Bekannte mit marokkanischen Wurzeln. Nach dem Erfolg im Viertelfinale gegen die Portugiesen genoss Abi Ouhbi, der das Spiel bei Freunden in Hagen verfolgte, das fröhliche Treiben rund um den Hagener Bahnhof, wo die marokkanische Community ausgelassen diesen historischen Erfolg feierte. Ein rot-grüner Freudentaumel, unbändige Freude über ein marokkanisches Wintermärchen in der katarischen Wüste. „Es war einfach nur schön zu sehen, wie fröhlich und friedlich dort gefeiert wurde und sich auch Menschen anderer Nationalitäten mit uns gefreut haben“, betont der Lüdenscheider.

Dass Marokkos Nationalmannschaft gute Kicker in ihren Reihen hat, das wusste Abi Ouhbi schon vor der Weltmeisterschaft. Was ihm aber mächtig imponiert hat im bisherigen Turnierverlauf, war die Art und Weise, wie der Außenseiter seine bisherigen Partien anging. „Wie diszipliniert diese Mannschaft spielt, das ist einfach überragend und sehr, sehr schön zu sehen. Ich bin total begeistert.“ Abi Ouhbi ist im Besitz des marokkanischen und auch des deutschen Nationaltrikots, hat alle WM-Spiele beider Mannschaften verfolgt. „Dass Marokko bei der WM weiter kommt als Deutschland, damit hatte auch ich nicht gerechnet“, lacht er, der nun dem Halbfinale gegen „Les Bleus“ entgegenfiebert.

Gerne wäre der 51-Jährige live dabei gewesen im Al-Bayt-Stadion, hatte schon nach einem Flug nach Katar geschaut. „Ich wäre geflogen, wenn ich die Gewissheit gehabt hätte, auch tatsächlich an eine Karte zu kommen“, sagt der Lüdenscheider. Diese Gewissheit aber hatte er nicht. So wird Abi Ouhbi das Semifinale vor einem Fernseher verfolgen – vielleicht sogar auf einer Leinwand in der Landeshauptstadt Düsseldorf, wo das Spiel in einem Kino übertragen wird. „Auf jeden Fall schaue ich nicht alleine“, lacht er.

Natürlich träumt auch der Lüdenscheider, der genauso wie auch Youssef Akbahach die deutsche und die marokkanische Staatsbürgerschaft besitzt, von einem Einzug ins WM-Finale. Sollte den Marokkanern tatsächlich auch der Coup gegen die Franzosen gelingen, dann, ja dann wird Abi Ouhbi in dieser Woche wohl doch noch in einem Flugzeug sitzen. Mit seinen Brüdern Farid und Najim sowie seinem Freund Mohammadi Akhabach möchte der 51-Jährige im Fall der Fälle nämlich das Endspiel am Sonntag beim „Rudelgucken“ in Marokko verfolgen. „Wahrscheinlich in Marrakesch“, betont Ouhbi, bei dem unabhängig vom Ausgang des Halbfinals vor allem eines überwiegt: Der Stolz auf die marokkanische Nationalmannschaft, die in Katar schon jetzt Sportgeschichte geschrieben hat.

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