Ukraine-Krieg: Putin-Rückzug ein Bluff? USA erwarten plötzlich Großoffensive
Russland verspricht nach neuen Verhandlungen, sich aus dem Norden der Ukraine zurückzuziehen. Doch es könnte auch ein großer Bluff sein: Die USA erwarten stattdessen eine Großoffensive.
Kiew - Endlich ein großer Verhandlungsdurchbruch oder nur ein großer Bluff? Nach den Verhandlungen am Dienstag (29. März) haben die russischen Unterhändler angekündigt, ihre Armee aus den Regionen um Kiew und Tschernihiw zurückzuziehen. „Um das Vertrauen zu stärken“, sei die „radikale“ Reduzierung der militärischen Aktivitäten im Norden des Landes beschlossen worden.
Jetzt lautet die Frage aller Fragen: Kann man Russland vertrauen? Oder ist die Zusage nur ein weiteres Manöver von Wladimir Putin*, um Zeit zu gewinnen und die Ukraine in trügerische Sicherheit zu wiegen?
Geht es nach ukrainischen und westlichen Spitzenmilitärs, kann man dem russischen Präsidenten weiterhin nicht über den Weg trauen. Sie haben Zweifel, dass Russland die angekündigte Reduktion der militärischen Aktivitäten in der Nordukraine wirklich umsetzt. Der ukrainische Generalstab erklärte in der Nacht zum Mittwoch: „Der sogenannte ‚Truppenabzug‘ ist wahrscheinlich eine Rotation einzelner Einheiten, die darauf abzielt, die militärische Führung der ukrainischen Streitkräfte zu täuschen.“
Ukraine-Krieg: USA erwarten Großoffensive von Russland statt Waffenstillstand
Auch das US-Verteidigungsministerium unter US-Präsident Joe Biden* hat mit großer Skepsis auf die Ankündigung Russlands reagiert. Pentagon-Sprecher John Kirby sagte am Dienstag, bislang scheine sich nur eine „kleine Zahl“ russischer Soldaten von Kiew zu entfernen. Das sei aber kein „Rückzug“, sondern eine „Neupositionierung“ der Truppen.
Der Pentagon-Sprecher sagte, die USA erwarten keinen Waffenstillstand, sondern im Gegenteil eine „Großoffensive“ gegen andere Regionen in der Ukraine. „Das bedeutet nicht, dass die Gefahr für Kiew vorbei ist.“ Der russischen Armee sei es bislang nicht gelungen, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es drohe weitere „massive Brutalität“ gegen die Ukraine und Kiew, warnte Kirby.
Ukraine-Krieg: USA und Großbritannien warnt vor Putin-Bluff - „Niemand sollte sich täuschen lassen“
Ähnlich äußerte sich die Kommunikationsdirektorin des Weißen Hauses, Kate Bedingfield. „Wir sollten nüchtern auf die Realität vor Ort blicken, und niemand sollte sich von Russlands Ankündigungen täuschen lassen.“ Die russischen Truppenbewegungen seien eine Neupositionierung und kein Rückzug. „Die Welt sollte auf eine Großoffensive gegen andere Regionen der Ukraine vorbereitet sein.“
Auch das britische Verteidigungsministerium nannte es auf Twitter „sehr wahrscheinlich, dass Russland versucht, seine Schlagkraft vom Norden auf die Regionen Donezk und Lugansk im Osten zu verlagern“. Der britische Militärgeheimdienst geht laut der Nachrichtenagentur Reuters offenbar davon aus, dass es auch an schweren Verlusten innerhalb der russischen Armee liegt, dass sie sich jetzt aus einigen ukrainischen Regionen zurückziehen will. Die Truppen würden sich nach Russland und Belarus bewegen, um sich dort neu zu formieren. Ein Aufatmen für die Ukraine sei dennoch nicht zu erwarten: Die verminderte militärische Präsenz auf dem Boden will Russland laut dem Geheimdienst offenbar mit verstärktem Artilleriebeschuss und Luftschlägen kompensieren.

Ukraine-Krieg: Selenskyj kündigt an, weiter gegen Russland zu kämpfen
Die Ukraine will ihre Kämpfe gegen Russland jedenfalls nicht verringern: „Die russische Armee hat immer noch ein großes Potenzial, um die Angriffe auf unseren Staat fortzusetzen“, warnte Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj* am Dienstagabend in einer Videobotschaft. Deshalb werde die Ukraine sich weiterhin verteidigen. Auch sollte es keinerlei Aufhebung von Sanktionen gegen Russland geben. Dies „kann erst in Betracht gezogen werden, wenn der Krieg vorbei ist und wir zurückbekommen, was uns gehört“, forderte Selenskyj.
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hat die Ankündigung Russlands, seine Militäroperationen zu reduzieren, ebenfalls als „Täuschungsmanöver“ eingestuft.
Ukraine-Krieg: Westen will Sanktionen gegen Russland vorerst beibehalten
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und die USA kündigten an, den Sanktionsdruck gegen Russland trotz seiner Versprechungen beibehalten zu wollen. Nach einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz*, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi sagte US-Präsident Joe Biden zu den russischen Ankündigungen: „Wir werden sehen, ob sie das wahr machen.“
Die Kämpfe in der Ukraine gingen derweil weiter. Bei einem russischen Angriff auf die Regionalverwaltung in der südukrainischen Stadt Mykolajiw wurden nach ukrainischen Angaben zwölf Menschen getötet und 33 weitere verletzt. Die russischen Streitkräfte beschossen in der Westukraine zudem den Militärflughafen von Starokostjantyniw und zerstörten ukrainischen Angaben zufolge die dortigen Treibstoffvorräte vollständig. (smu/afp/dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.