„Ob man je Antworten bekommt?“

Werdohl – Tobias Chylka hatte sich bereits auf ernsthafte Gespräche mit den Schülern der Albert-Einstein-Gesamtschule (AEG) vorbereitet, nachdem das erschütternde Tötungsdelikt an der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg durch gleichaltrige Mädchen bekannt geworden war. „Erstaunlicherweise hat sich aber kein Kind bei mir gemeldet, dass es sich durch die Nachricht schwer belastet fühle“, erklärt der Schulsozialarbeiter.
Insbesondere, weil auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Instagram stark auf das Tötungsdelikt eingegangen worden war, hatte Chylka mit mehr Gesprächsbedarf gerechnet. „Da sind Unmengen Clips zum Thema veröffentlicht worden und es ist damit zu rechnen, dass auch unsere Schüler sich dadurch mit dieser Gewalttat beschäftigt haben.“
Dass Luises Tod allgemeines Gesprächsthema war an der AEG, kann der Schulsozialarbeiter bestätigen. „Was mich tatsächlich froh macht, ist, dass kein Kind mir gegenüber eine generelle Angst geäußert hat. Das wäre schlimm, wenn junge Leute nach so einem Ereignis ihre Unbefangenheit verlieren würden und sich nicht mehr 'raus trauten.“
An der Schule, auch im Kollegium, wird der Fall Luise als wahrhaftig einzigartig wahrgenommen. Chylka: „Dieses junge Täterinnenalter ist so außergewöhnlich, da gibt es ja kaum Vergleichsfälle. Über Gründe und Hintergründe kann man nur spekulieren. Ob man je Antworten bekommt?“
Es war eine Tragödie, die sich am vergangenen Wochenende bei Freudenberg abgespielt hat: Zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, sollen die nahezu gleichaltrige Luise getötet haben, ein Geständnis haben die beiden bereits abgelegt. Zu den Gedanken an die trauernde Familie des Mädchens mischt sich seitdem bei vielen Menschen auch Unbehagen: Wie kann es sein, dass Jugendliche erst ab 14 Jahren selbst für solch brutale Taten strafrechtlich belangt werden können? Wie schwierig die Einordnung ist und welche Gründe es für die Strafunmündigkeit bis einschließlich 13 Jahren gibt, erläutert Ansgar Röhrbein vom Märkischen Kinderschutz-Zentrum.
Der ganzen Tragik der Geschehnisse in Freudenberg ist sich auch Ansgar Röhrbein bewusst und unterstreicht sein Mitgefühl mit den Betroffenen. Eine Erklärung oder gar Diagnose der Tat und Täterinnen aus der Ferne verbiete sich, sagt der Leiter des Märkischen Kinderschutz-Zentrums. Aber er kennt auch die zahlreichen Faktoren, die die Kindheit und Jugend heute von der vor 20 oder 30 Jahren vor allem im digitalen Bereich unterscheidet. „Ich habe heute die Möglichkeit, jemanden zu diskreditieren, ohne ihm ins Gesicht schauen zu müssen“, sagt Röhrbein mit Blick auf Whats-App oder andere Messenger-Dienste sowie vermeintlich soziale Netzwerke. Diese seien „ideal für schnelle aggressive Impulse“. Und es sei schnell, sozusagen aus dem Bauch heraus, „ein „Stein“ geworfen – „ohne Besonnenheit oder Abwägung, welche Folgen das für das Gegenüber haben könnte“, sagt der Diplom-Pädagoge.
Je nachdem, welche Konsequenzen die Kinder und Jugendlichen daraufhin erlebten, könnten aus der Aggressivität im Netz auch analoge Handlungen werden, deren Folgen insbesondere Kinder nicht absehen könnten.
Eine detaillierte Bewertung der Gesamtumstände und Verantwortlichkeiten könne nur nach intensiven Gesprächen mit psychologischen Fachkräften erfolgen, betont der Leiter des Kinderschutz-Zentrums. In der Diskussion um die Strafmündigkeit, die in Deutschland erst mit 14 Jahren beginnt, stellt er fest: „Wir haben zwei Facetten: Zum einen die körperliche Reife, die immer früher beginnt.“ So setze die Menarche, also erste Regelblutung, bei immer mehr Mädchen schon im Alter von zehn Jahren und früher ein. „Anderseits geht es aber auch um eine beginnende psychische Reife, die in jedem Fall eine Rolle spielt und die erst ab dem 14. Lebensjahr angenommen wird.“ Eine Diskussion in Bezug auf die Absenkung des Alters der Strafmündigkeit sei aus seiner Sicht nicht zielführend und bräuchte zuvor eine gute Daten- und Forschungslage.
In jedem Fall sollten die Erwachsenen mit gutem Beispiel vorangehen und anderen Respekt erweisen, um einem gewissen – von der Fachwelt – wahrgenommenen „Verfall von Werten“ nicht nur bei jungen Menschen zu begegnen. „Das ist eine Aufgabe der Gesellschaft, der Familie und natürlich der Jugendhilfe. Wir brauchen Vorbilder, statt Feindbilder“, sagt Ansgar Röhrbein.