Die Rede des Kapitäns, der die Trauerfeier auf der MS Nordwind leitete, war sehr bewegend. Daran erinnert sich Bettina Böhl sehr gut. Mit aus Werdohl war noch Bestatter Dieter Eckhardt angereist, der die Urne mit Blumenkranz langsam in die Nordsee ließ. Vermutlich nicht allzu viele Werdohler dürften eine Seebestattung miterlebt haben.
So besonders der Abgang von Annemarie Schulte-Ockelmann, so außergewöhnlich war auch ihr Leben. In einer Zeit, wo sich kaum jemand Gedanken über Formulierungen wie „das Mädchen musste ihren Mann stehen“ machte und wo männliche Übergriffe auf Frauen noch zum tolerierten Umgang gehörten, wollte Annemarie Schulte aus Eveking Matrosin und Kapitänin werden. 1967 hatte sie ihr Abitur am Geschwister-Scholl-Gymnasium abgelegt, danach wusste sie nicht genau, was sie damit anfangen sollte.
Allein ein Mädchen mit Abiturwunsch war Ende der 1960er-Jahre wesentlich ungewöhnlicher als heutzutage. Nach verschiedenen Bürojobs zur Aushilfe kam der lebenshungrigen jungen Frau aus dem engen Versetal die Idee: Sie wollte ohne viel Geld die ganze Welt bereisen, und das am liebsten auf See.
Die angehende Seefahrerin verließ Werdohl und studierte drei Semester auf der Seefunkschule in Bremen. Weil ihr die Funkerei doch nicht so lag und sie ja richtig aufs Meer wollte, wechselte sie zum Fachbereich Nautik der Fachhochschule Oldenburg in Elsfleth. Dort absolvierte sie eine Ausbildung zur Matrosin. In ihrem Ausbildungslehrgang war sie die einzige Frau unter 13 Männern. Die Ausbilder trauten ihr als Frau in einem Männerberuf wenig zu, sie musste sich stets doppelt beweisen. Als Offiziersbewerberin musste sie ihren Job von der Pike auf lernen, Deck schrubben gehörte dazu. Eine sehr harte Zeit für die junge Frau. Als sie dem Ziel ihrer Ausbildung, das Erlangen des Kapitänspatents, näher kam, wurden die Hamburger Medien auf sie aufmerksam. Unter der Überschrift „Wenn Mädchen Kapitän werden wollen“ wurden Fotos von der mit Männern rudernden Annemarie veröffentlicht. Neben Annemarie Schulte aus Werdohl (damals 24) versuchte noch die sechs Jahre jüngere Gabriele Schneidewind aus Hamburg den Weg zur Kapitänin. Hamburger und auch heimische Medien sowie die Bild-Zeitung fanden platte Formulierungen und eine herablassende Sprache, um die beiden jungen Frauen zu beschreiben.
Nach zwei Jahren auf See hatte die Werdohlerin ihr Ziel erreicht: Mit 28 Jahren war sie die erste Frau im Nachkriegsdeutschland, die ihr Seefahrtspatent als „Kapitän auf großer Fahrt“ erhielt. In die überregionalen Medien geriet sie gleich am Anfang ihrer Zeit auf See. Die „Kapitänsfrau aus Werdohl (30)“, so schrieb die Bild-Zeitung, rettete 25 Vietnamesen von einem kleinen Fischkuter. Sie fuhr damals als 2. Offizierin auf einem riesigen Tanker von Kuweit über Saigon. Sie veranlasste, dass den damals so genannten „Boatpeople“ – die in der Folge des Vietnamkrieges in Südostasien geflohenen Menschen meist vietnamesischer Herkunft – Lebensmittel überlassen wurden. Insgesamt 24 Jahre lang arbeitete sie als Kapitänin mit eigenem Kommando und als Bordoffizierin, bis sie aus gesundheitlichen Gründen aufgab. Pech hatte sie auch mit der Liebe: 2000 heiratete sie den Kapitän Claus Ockelmann aus Hamburg, der nach 40 Jahren zur See zu seiner Frau ins bergige Sauerland zog. Der Ehemann starb nur drei Jahre später.
2009 engagierte sie sich für die SPD als sachkundige Bürgerin in Ausschüssen und in der Öffentlichkeit, sie wollte Ratsmitglied werden. Nach kurzer Zeit trat sie aber wieder aus der Partei aus. Danach brach sie den Kontakt zu ihren ehemaligen Parteifreunden ab.