Sie hatten am 15. Februar 1997 ihren ersten Arbeitstag in der Suchtberatungsstelle Plettenberg. Was ist Ihnen davon noch in Erinnerung geblieben?
Frank Horstmann: Für mich war es schon ein Sprung ins kalte Wasser, denn obwohl ich zuvor mein Anerkennungsjahr bei der Drogenberatung in Werdohl absolviert hatte, unterschied sich die Arbeit mit alkoholkranken Menschen dann doch sehr von der mit Drogenabhängigen. Die Klientel war deutlich älter, sodass ich – ich war damals 28 Jahre alt – mir hin und wieder Respekt ver-schaffen musste.
Mit welchen Schwerpunkten sind Sie am Anfang in die Arbeit eingestiegen?
Vor allen Dingen mit der Grundversorgung der Ratsuchenden, die damals aus der Beratung und Vermittlung in stationäre Entgiftungs- und Therapieeinrichtungen bestand. Relativ schnell leitete ich dann auch eine Suchtgruppe, die wöchentlich stattfand. Ein besonderes Interesse hatte ich aber an Präventionsveranstaltungen und der Öffentlichkeitsarbeit. Ich liebte es, vor vielen Zuhörern zum Thema Sucht und Suchtvorbeugung zu referieren. Ferner engagierte ich mich gerne in Arbeitskreisen, teilweise auch im Sprecherteam, und betätigte mich gerne kreativ, das heißt, ich designte die Flyer, die Jahresstatistik etc. neu.
Hat sich die Arbeit im Laufe der Jahre sehr verändert?
Ganz sicher. Die Klientel hat sich verändert. Es gibt immer seltener den klassisch alkoholkranken Menschen, dafür nehmen die Mehrfach-Abhängigen zu. Neben Alkohol werden oft noch Cannabis oder Amphetamine konsumiert. Die Spielsucht nimmt immer weiter zu, wobei ich nicht nur das Glückspiel meine, sondern auch das Spielverhalten junger Menschen an Handy, Konsole oder PC. Leider gibt es aber im Märkischen Kreis kaum adäquate und professionelle Hilfsangebote bei dieser Suchtproblematik.
Apropos professionelle Hilfsangebote: In wieweit haben Sie sich im Laufe der Jahre weiter professionalisiert?
Besonders gern erinnere ich mich an die Ausbildung zum anerkannten Kursleiter von Raucher-Entwöhnungsprogrammen. Diese Kurse habe ich gerne und teilweise sehr erfolgreich angeboten. Ein wichtiger Schritt Richtung weiterer Professionalisierung für mich persönlich, aber auch für die Suchtberatungsstelle und deren konzeptionellen Ausrichtung, war meine dreijährige Ausbildung zum Suchttherapeuten. Da meine Kollegin diese bereits frühzeitig in den 90er Jahren erfolgreich absolviert hatte, hatten wir die Voraussetzungen für das Angebot einer ambulanten Rehabilitation für Suchtkranke in Plettenberg geschaffen.
Wie sieht dieses Angebot aus?
Im Verbund mit anderen Sucht- und Drogenberatungsstellen und dem Sozialpsychiatrischen Dienst im Märkischen Kreis haben wir unter dem Namen ARS-MK (Ambulante Rehabilitation Suchtkranker im Märkischen Kreis) 2008 die Anerkennung von den Rentenversicherungen erhalten. Wir haben uns damals sehr für Plettenberg als Therapiestandort eingesetzt und konnten sowohl die ambulante Therapie als auch die Nachsorge hier etablieren.
Seit Ihrem Dienstantritt 1997 arbeiten Sie mit Ihrer Kollegin Sabine Schneider zusammen. Macht nach so vielen Jahren jeder „sein Ding“ oder gibt es noch viele Schnittstellen oder gemeinsame Projekte?
Wir wissen uns gegenseitig zu schätzen und ergänzen uns in unserer gemeinsamen Arbeit sehr gut. Gerade in der Suchtarbeit ist es wichtig, eine zuverlässige Kollegin an seiner Seite zu wissen, gemeinsam die Arbeit zu reflektieren, dabei auch Kritik und Korrektive zuzulassen und sich auch immer wieder gegenseitig für die mitunter nicht leichte Arbeit zu motivieren.
Wie entsteht eigentlich eine Sucht?
Wir alle kennen diese Situationen, ob aus eigenen Erfahrungen oder als Beobachter: Eine Zigarette in der Pause, ein oder zwei Bier zum Feierabend, eine schnell herbeigeschaffte und geschluckte Tablette, wenn der Kopf mal wieder schmerzt – für viele Menschen gehört das zum Alltag. Doch was passiert, wenn dieses Verhalten nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig zutage tritt, wenn man die Kontrolle über das richtige Maß verliert? Wir wissen: Sucht ist kein Randproblem der Gesellschaft, sondern es betrifft viele und leider immer mehr Menschen in Deutschland.
Und welche Süchte unterscheiden wir?
Bei der Sucht handelt es sich in der Regel um die Abhängigkeit von einer Substanz. Das sind vor allem legale Genuss- und Suchtmittel wie Alkohol und Tabak, illegale Drogen wie Cannabis, Amphetamine, Kokain und Heroin, aber auch Medikamente wie Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel. Diese sogenannte stoffgebundene Sucht ist gekennzeichnet durch ein starkes und wiederkehrendes Verlangen nach der Einnahme dieser Substanz trotz eindeutig schädlicher Folgen. Es kommt zu einer Toleranzentwicklung: Um die als angenehm empfundenen Effekte des Rauschs zu erreichen, benötigen die Konsumierenden irgendwann größere Mengen der Substanz. Auch bestimmte Verhaltensweisen können als Süchte bezeichnet werden. Bei dieser sogenannten nicht-stoffgebundenen Sucht gerät ein Verhalten außer Kontrolle, Beispiele dafür sind (Computer-/Glück-)Spielsucht, Internetsucht und Kaufsucht.
Wie verbreitet sind Süchte eigentlich in Deutschland?
Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) zufolge waren 2018 etwa 13,5 Prozent der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland von mindestens einer der folgenden Substanzen abhängig: Alkohol, Tabak, Cannabis, Amphetamin, Kokain, Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel. Der Konsum von Alkohol und Ta-bak gehört für viele Menschen zum Alltag dazu und erregt zunächst keinen generellen Verdacht. Jedoch kann der Grat zwischen angemessenem und problematischem (oder eben sogar süchtigem) Umgang sehr schmal sein.
Wie kommt es zu einer Sucht?
Es gibt verschiedene Theorien darüber, wie eine Sucht entsteht. Ein weit verbreiteter Erklärungsansatz liefert das sogenannte „biopsychosoziale Modell“. Dieser Theorie zufolge hat die Entwicklung einer Störung ihren Ursprung sowohl auf der körperlichen als auch auf der psychischen und sozialen Ebene. Auf sozialer Ebene spielen das Elternhaus (die Eltern als Vorbild) und später vor allen Dingen die Peergroup [Anm. d. Red.: Gruppe von etwa gleichaltrigen Kindern oder Jugendlichen, die als primäre soziale Bezugsgruppe neben das Elternhaus tritt] eine Rolle. Alle drei Ebenen beeinflussen sich wechselseitig und sind ausschlaggebend für die Ursachenfindung. Auch die Konditionierung spielt bei der Entwicklung der Sucht eine wichtige Rolle: Der Konsum der Substanz wird mit gewünschten Wirkungsweisen, mit Personen und Orten verknüpft, die wiederum den Drang, die Substanz konsumieren zu wollen, auslösen („triggern“) können.
Warum werden manche Menschen süchtig und andere nicht?
Nicht jeder, der jemals – gelegentlich oder regelmäßig – Alkohol getrunken oder eine Droge ausprobiert hat, wird sofort oder später im Leben davon süchtig. Schätzungen zufolge wird zum Beispiel nur jeder zehnte, der Cannabis probiert hat, später regelmäßiger oder gar süchtiger Konsument. Die Anfälligkeit für eine Sucht ist von Mensch zu Mensch aufgrund von genetischer, umweltbedingter und entwicklungsbedingter Faktoren sehr unterschiedlich.
Welche Schutzfaktoren senken das Risiko, eine Sucht zu entwickeln?
So, wie es Risikofaktoren gibt, die die Entwicklung einer Sucht fördern, gibt es Schutzfaktoren, die das Risiko verringern. Ist die betroffene Person mit einem gesunden Selbstbewusstsein, mit einer adäquaten Problem- und Konfliktfähigkeit, einer guten Kommunikationsfähigkeit und einem gesunden Maß an Frustrationstoleranz ausgestattet, empfindet diese Person ihre Freizeit als erfüllend, hat diese Person zu- dem Eltern, die sie als wertschätzend und unterstützend wahrnimmt, die hinsichtlich des Konsums von Suchtmitteln als Vorbild dienen, dann ist das Risiko, eine Sucht zu entwickeln, deutlich geringer.
Ist eine Sucht eigentlich behandelbar?
Ja, wobei das wichtigste Therapieziel die Abstinenz ist. Abstinenz bedeutet, komplett auf den Konsum des suchterzeugenden Stoffes zu verzichten. Gelingt das nicht im häuslichen Umfeld, dann kann eine stationäre Entgiftung im Allgemeinkrankenhaus oder eine sogenannte Qualifizierte Entgiftung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgen. In einem geschützten Rahmen gelingt der „Absprung“ vom Konsum häufig leichter, nicht zuletzt aus dem Grund, dass etwaig auftretende körperliche Entzugssymptome adäquat medikamentös gedämpft werden können. Ist eine Abstinenz erreicht, kann in der folgenden Beratung oder Therapie die der Sucht zugrundeliegende Problematik aufgearbeitet werden. Der Besuch einer Selbsthilfegruppe sollte ergänzend in Betracht gezogen werden. Eine parallele medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen oder Drogensubstitute (zum Beispiel Methadon als Ersatz für Heroin) können das Hilfeangebot komplettieren. Nicht nur die Abstinenz vom Suchtstoff ist das Ziel der Therapie, sondern insgesamt die Lebensqualität des betroffenen Menschen zu verbessern beziehungsweise zu erhalten.