„Dunkelziffer höher“: Kinderarzt Achenbach zu den Fällen sexueller Gewalt an Kindern

Acht Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch gab es laut Kriminalitätsstatistik im vergangenen Jahr in Plettenberg. Doch die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher, sagt Kinder- und Jugendarzt Michael Achenbach.
Plettenberg – Im Interview erklärt er, was bei der Prävention besonders wichtig ist.
In der vorigen Woche wurde die Kriminalitätsstatistik veröffentlicht. Acht Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern tauchen darin auf. Hat Sie diese Zahl überrascht?
Michael Achenbach: Überrascht hat mich diese Zahl nicht, aber es hat mir noch einmal vor Augen geführt, dass dieses Thema auch in Plettenberg existiert. Deswegen möchte ich auch darüber sprechen, denn die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Wir sprechen von einem Verhältnis zwischen 1 zu 20 und 1 zu 30 – bei Fällen innerhalb der Familie eher letzteres – von entdeckten zu unentdeckten Fällen. Zwar sind die mir bekannten Dunkelfeldstudien schon etwa zehn Jahre alt, aber ich bin mir nicht sicher, ob seitdem die Aufklärungsquote wirklich gestiegen ist. Fakt ist: Auch hier in Plettenberg haben wir eine viel höhere Rate an sexualisierter Gewalt an Kindern als die acht Fälle aus der Statistik. Und dahinter verbergen sich häufig jahrelange Leidensgeschichten.
Sie haben sich speziell in diesem Bereich fortgebildet, haben 2021 ein Masterstudium in Sexologie (Sexualwissenschaft) abgeschlossen mit einer Arbeit über kindliche Sexualität. Sie schreiben auch über das Thema sexualisierte Gewalt. Warum ist diese Bezeichnung treffender als der des sexuellen Missbrauchs?
Weil der Begriff Missbrauch auch das Gegenteil, einen richtigen Gebrauch, nahelegt. Das kann es bei sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht geben. Täter sagen immer wieder: „Das Kind war damit einverstanden, es wollte es doch auch.“ Nein, das Kind kann zu diesen Handlungen sein Einverständnis nicht geben. Eine Einvernehmlichkeit gibt es hier nicht! Diese Konstellation ist immer mit einem Machtgefälle verbunden und deswegen ist es per se sexualisierte Gewalt. Die Sexualität ist dabei nur das Mittel, um die Gewalt auszuüben.
Außerdem hat sich der Begriff unserer Sexualmoral sich auch gewandelt. Früher ging es darum, was man tut; zum Beispiel ob jemand Sex vor oder außerhalb der Ehe hat. Heute ist Moral anders definiert. Es ist das moralisch, was zwischen den Beteiligten verhandelt wurde. Es geht um die Einvernehmlichkeit, nicht den Inhalt. Und – noch einmal – diese Einvernehmlichkeit gibt es bei sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht, es handelt sich um sexualisierte Gewalt. Die Art, wie über dieses Thema diskutiert wird, ist ebenfalls problematisch. Da mit der Opferrolle eine Abwertung verbunden ist, ist es für Betroffene sehr schwer sich mitzuteilen. Begriffe wie Kinderschänder in der Berichterstattung verstärken das noch, weil wir damit assoziieren, dass Schande über das Kind gebracht wurde. Dabei gehört die Schande allein dem Täter, nicht dem Kind.
Wo sehen Sie beim Thema Prävention den größten Handlungsbedarf?
In der Prävention gibt es drei Ebenen: Bei der primären Ebene geht es darum zu vermeiden, dass es überhaupt zu Fällen sexualisierter Gewalt kommt, dass Menschen zu Tätern werden. Auf der sekundären Ebene geht es um die Früherkennung und bei der tertiären Prävention darum zu verhindern, dass Täter rückfällig werden. Beim 2021 verabschiedeten „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ stand vor allem Letzteres, die Rückfallprävention, im Fokus.
Wir müssen aber die primäre und sekundäre Prävention stärker in den Blick nehmen. Bei den bekannt gewordenen Fälle ist für mich die Frage spannend, wie diese Fälle aktenkundig geworden sind, wer die Ermittlungen angestoßen hat. Das ist eine Frage an die Ermittlungsbehörden. Wenn wir das wüssten, würde deutlich, wie die Früherkennung sexualisierter Gewalt aktuell funktioniert. Dann könnten wir als Stadt, als Gesellschaft darüber sprechen, was wir mehr bieten können, um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Sie als Kinder- und Jugendarzt spielen bei der Früherkennung doch auch eine wichtige Rolle.
Eher weniger. Ich sehe an langfristigen Entwicklungen oder Entwicklungsverzögerungen, ob etwas nicht stimmt. Aber die Chance, im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen Misshandlungen festzustellen, ist eher gering. Die Termine werden schließlich von der Familie gesteuert, aus der meist die Täter stammen. 75 Prozent der Fälle spielen sich innerhalb der Familie ab – 25 Prozent in der Kernfamilie, 50 Prozent in der erweiterten Familie. Deswegen ist die Chance, dass etwas entdeckt wird, wie häufiger auftretende blaue Flecken, Verhaltensauffälligkeiten etc., in Kitas und Schulen viel höher. Die Einrichtungen spielen bei der Früherkennung, also der sekundären Prävention eine entscheidende Rolle.
Ebenso wichtig ist ihre Rolle bei der Vermittlung von Wissen über Sexualität. Deswegen müssen wir in jeglicher pädagogischen Ausbildung – Erzieher, Lehrer usw. – mehr sexualpädagogisches Knowhow vermitteln. Dazu gehört auch zu lernen, mit der eigenen Scham bei diesem Thema umzugehen. Wenn ich als Erzieher mit einer hohen Schamschwelle an das Thema herangehe, spreche ich bestimmte Dinge gar nicht an und Kinder merken, dass man in dem Punkt gehemmt ist. Und teilweise ist es auch so, dass wir die Scham umkehren, also die Kinder beschämen, was diese Thematik angeht. Diese Scham ist aber ein Hindernis bei der Aufklärung von Fällen sexualisierter Gewalt.
Warum ist das so?
Uns fällt es schwer über Sexualität zu reden und wir bringen unseren Kindern dann auch bei, dass es schwierig ist, darüber zu reden. Ich erinnere mich an Situationen in meiner Praxis, bei denen Eltern kein anderes Wort für den Genitalbereich ihres Kindes hatten als „da unten“. Weil es ein schambehaftetes Thema ist, sprechen viele Eltern Wörter wie Vagina oder Vulva nicht aus. Interessanterweise ist das bei Mädchen ausgeprägter als bei Jungen. Doch wofür mir die Worte fehlen, darüber kann ich schlecht nachdenken und sprechen. Ein Teilbereich des Lebens wird durch die Sprachlosigkeit tabuisiert.
Das gilt auch für sexuelle Themen allgemein. Für viele Eltern ist es schwer zu akzeptieren, dass Kinder von Anfang an sexuelle Wesen sind. Das Masturbieren oder Spielen mit den eigenen Genitalien stellt immer noch ein Tabu dar, dabei ist das überhaupt nichts Schlimmes und kommt auch schon bei Säuglingen vor. Wir müssen solche Tabus abbauen. Uns muss klar sein, dass schon in der frühesten Kindheit die Grundlagen dafür gelegt werden, um später verantwortlich, insbesondere selbstverantwortlich mit Sexualität umzugehen. Aber um es ins Positive zu drehen: Das ist auch eine Chance für Eltern, die ihre Kinder schützen möchten.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen Eltern – auch im Rahmen der Sexualpädagogik – helfen, sexuelle Themen mit ihren Kindern bearbeiten, besprechen zu können, das Thema mit weniger Scham anzugehen. Wir müssen es den Kindern zum Beispiel ermöglichen, auch über ihren Genitalbereich reden zu können, damit sie Übergriffe auch als solche benennen können. Es geht darum, den Kindern kommunikative Kompetenzen zu vermitteln, ihnen beizubringen wie sie sich abgrenzen und Nein sagen können. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass zum Beispiel auch Kinder, die überbehütet aufwachsen, ein höheres Risiko haben, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Können Sie das näher erläutern?
Es gibt eine Langzeitstudie aus Neuseeland, die Christchurch-Studie, in der ein Geburtenjahrgang von 1200 Kindern über 40 Jahre beobachtet wurde. Im Alter von 18 bis 21 wurden auch Daten zu erfolgter sexueller Gewalt erhoben. Mädchen haben demnach ein höheres Risiko sexuelle Gewalt zu erleben, ebenso wurden Ehekonflikte oder Alkoholprobleme der Eltern und eine unsichere Bindung zu den Eltern als Risikofaktoren identifiziert, aber auch ein überbehütender Erziehungsstil.
Das mag zunächst überraschend klingen, ist aber ganz logisch. Bei einem überbehütenden Beziehungsstil, der ja gar nicht so selten ist, haben Kinder weniger Selbstwirksamkeitserlebnisse, weil andere für sie wirksam sind. Fähigkeiten zu entwickeln, um mit Herausforderungen selbst umzugehen, Erfolgserlebnisse zu haben – „ich kann das“ – dieser Lernprozess wird durch überbehütende Eltern behindert. In einer kritischen Situation fällt es ihnen so schwerer, sich abzugrenzen und Nein zu sagen, weil ihnen wichtige Verhaltenselemente zum Selbstschutz fehlen.
Welcher Erziehungsstil wäre also am besten?
Ein zugewandter, aber nicht überbehütender Erziehungsstil. Wichtig sind hierbei Kommunikation – dass über das Thema Sexualität geredet werden kann – sowie den Kindern Autonomie zuzugestehen und ihnen beizubringen, andere zu tolerieren. Ziel wäre es, die Handlungskompetenzen von Kindern so zu stärken, sie emotional und vom Selbstbewusstsein her so auszustatten, dass sie eine Situation unter Umständen vermeiden können, in der sie Opfer sexualisierter Gewalt werden. Und wenn sie sie nicht vermeiden können, dann davon berichten zu können und aktiv zu werden, damit sich der Opferstatus nicht verfestigt und sich die Taten nicht wiederholen. Außerdem wissen wir aus der Forschung, dass Menschen, die selbst Opfer sexueller Gewalt waren, ein höheres Risiko haben, selbst zu Tätern zu werden. Deswegen muss die Primärprävention gerade bei denen ansetzen, die noch nicht zu Tätern geworden sind.
Was muss da geschehen?
Manche Menschen fühlen sich sexuell zu Kindern hingezogen, das ist so. Wenn uns das jemand erzählen würde, auch wenn dieser Jemand nie zum Täter geworden ist, würden wir das wahrscheinlich als abstoßend empfinden und abwertend reagieren. Die Frage ist daher, welche Hilfen können wir solchen Menschen anbieten, ohne sie abzustempeln? Dort setzen Angebote wie „Kein Täter werden“ an. Diese kann man aber nur etablieren, wenn man diese Menschen nicht mit Tätern auf eine Stufe stellt, sondern ihnen alle denkbare Unterstützung dabei bietet, ihre Neigungen nicht auszuleben – und dieses Bemühen wertschätzt.
„Kein Täter werden“
„Kein Täter werden“ ist ein Präventionsnetzwerk, das deutschlandweit ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Männer und Frauen, Erwachsene und Jugendliche macht, die therapeutische Hilfe suchen, weil sie sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen (www.kein-taeter-werden.de).