Kurz vor ärztlicher Unterversorgung

Zu wenige Hausärzte im Bereich Werdohl-Neuenrade und überdurchschnittliche viele Ärzte sind über 60 Jahre alt. Zudem sind fünf Sitze zu vergeben.
Neuenrade – Die aktuellen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) unterstreichen, dass Politik und Verwaltung mit ihrer Entscheidung, ein kommunal geführtes Medizinisches Versorgungszentrum in Neuenrade zu etablieren, richtig lagen.
82 Prozent Versorgungsgrad
So schreibt die Kassenärztliche Vereinigung auf Nachfrage, dass der Versorgungsgrad derzeit bei gerade einmal 82,8 Prozent liegt; ab 75 Prozent spricht die KV von drohender Unterversorgung. Die Zahlen beziehen sich auf den Mittelbereich Werdohl und Neuenrade. Die ärztliche Versorgung beider Städte fasst die KV hier zusammen.
Rein statistisch sind 14,75 Hausärzte aktuell tätig
Deutlich wird die Unterversorgung auch durch die Zahl der aktuell tätigen Hausärzte, die mit 14,75 angegeben wird. Für eine 100-prozentige Versorgung wären aber 17,8 Sitze nötig. Fünf freie Sitze gibt es nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung im heimischen Bezirk noch. Pro Arzt rechnet die KV mit knapp 1600 Einwohnern. Für 8000 Werdohler und Neuenrader fehlt also statistisch gesehen ein Arzt. Wie knapp das alles ist, wird jeder wissen, der versucht, einen Arzt telefonisch zu erreichen, vor allem zur Urlaubszeit. Und der Bedarf steigt angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung.
63 Prozent der Ärzte älter als 60 Jahre
Noch eine weitere durchaus beunruhigende Zahl liefert die KV auf Nachfrage: die Altersstruktur der Ärzte. 63 Prozent der Hausärzte sind älter als 60 Jahre. Damit steht Werdohl-Neuenrade eher schlecht da, denn in Westfalen-Lippe sind nur 40 Prozent der Ärzte älter als 60. Was eine etwaige Überalterung der Ärzteschaft anbelangt, so wurde die Pensionsgrenze von 68 Jahren bereits 2008 gestrichen. Die Ärzte können privat oder vertragsärztlich ohne Altersgrenze tätig bleiben. Das ist insofern gut, da einige Ärzte dann auch weiter praktizieren. Es erschwert der KV allerdings auch eine Prognose.
Reichlich Fördergeld für neue Ärzte möglich
Auch vor diesem Hintergrund wird Neuenrade bereits seit 2015 von der Kassenärztlichen Vereinigung gefördert. Die KV hat in der Zeit Praxisdarlehen vergeben und sogar Umsatzgarantien vergeben – sie beziffert die Förderung mit insgesamt 300 000 Euro. Auch Werdohl – ebenfalls zwischenzeitlich im Förderprogramm seit 2015 – profitierte. Dort wurden auch Kinderärzte gefördert. Praxisdarlehen in Höhe von 100 000 Euro flossen. Für den Bereich Kinderarztpraxis gab es Praxisdarlehen in Höhe von 60 000 Euro.
Weiche Faktoren zählen
Die KV hilft nun jungen Ärzten und Praxisnachfolgern unter anderem mit „Praxissstart“. Hier werden Ärzte beraten, gefördert und hinterher auch nicht allein gelassen. Geld scheint offensichtlich nicht das Problem zu sein und das weiß die Kassenärztliche Vereinigung offenbar sehr genau. Generell sei die Nachbesetzung in Arztpraxen auf dem Land – vor allem mit jungen Medizinern schwierig. Die Zahl jener, die als Landarzt arbeiten will, reiche eben nicht aus. Zudem: „Die weichen Faktoren spielen eine wichtige Rolle“, heißt es von Stefan Kuster, Sprecher bei der KV-Westfalen-Lippe. Das fängt bei ausreichend großen Praxisräumen an, reicht über Baugrundstücke und Kinderbetreuungsangebote bis hin zu Arbeitsmöglichkeiten für die Lebenspartner. Kuster betont, dass generell nicht nur die Arzt-Zahl in den Blick genommen werden dürfe – die sei eben auch nicht beliebig vermehrbar.
Gesunkene Gesundheitsbildung sorgt für mehr Arbeit
Wichtig seien eben mehr Medizinstudienplätze, aber durchaus auch die medizinische Allgemeinbildung der Bevölkerung. „Mit Blick auf die Behandlung von Kinder- und Jugendlichen kommt es zu vermehrter Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen aufgrund gesunkener Gesundheitsbildung in der Bevölkerung.“ Auch nehme das Erstellen von Gutachten bei den Ärzten immer mehr Zeit in Anspruch. „Bei all diesen Rahmendigungen liegen wichtige Aufgabenstellungen für die Politik.“
Verdienstmöglichkeiten
Mediziner Dr. Torsten Schulz, stellvertretender Vorsitzender der medizinischen Gesellschaft Neuenrade-Werdohl, sagte auf Nachfrage, dass die ärztliche Versorgung auf dem Land insgesamt wohl schlechter werde. Die jungen Mediziner würden nach seiner Kenntnis eben weiterhin großstädtische Regionen bevorzugen. Hinzu komme, dass generell die Verdienstmöglichkeiten für Mediziner inzwischen zu gering seien. Da müsse sich unbedingt etwas tun.
Digitalisierung
Ob durch die Digitalisierung die Hausarztsituation verbessert werde, vermochte der erfahrene Arzt nicht zu sagen. Er verwies darauf, dass aus seiner Sicht zum Beispiel Online-Sprechstunden zusätzlich zum normalen Geschäftsbetrieb laufen würden. Er frage sich, ob das für Mediziner abends noch zumutbar und sinnvoll sei. In seinem Fachbereich – er ist Chirurg – funktioniere das sicher nicht.