Auf dem Weg zur Berufspianistin: Junge Ukrainerin startet jetzt in Deutschland durch

Die 16-Jährige ist nach ihren Auftritten längst stadtbekannt in Neuenrade. Taisiia Nikitova spielt wunderbar Klavier, möchte Berufspianistin werden.
Für diese Ziel brennt sie, dafür lebt sie. „Für einen Freund habe ich keine Zeit“, sagt sie etwa voller Disziplin. Dabei wirkt sie durchaus fröhlich, wie ein ganz normaler Teenager.
Die junge Frau lacht viel während des Gespräches, welches sie – kaum ein Jahr nach ihrer Flucht vor dem Krieg in der Ukraine – problemlos auf Deutsch führt. Nach ihren Wünschen für die Zukunft befragt, erklärt sie selbstkritisch und ohne Zögern: „Mein aktueller Traum ist es, erst einmal Deutsch zu lernen, damit ich mich mit den Menschen hier unterhalten kann – ohne Fehler zu machen.“
Die Urgroßmutter lebt noch in der Ukraine
Etwas leiser fügt sie hinzu: „Und ich hoffe, in der Ukraine wird bald alles wieder gut.“ Denn Taisiias Urgroßmutter lebt noch dort. „Sie hat gesagt, sie sei zu alt, um zu fliehen.“ Sie telefonieren jeden Tag, verrät Taisiia, die Taja genannt werden möchte. „Manchmal haben sie Strom dort, am nächsten Tag dann wieder nicht.“
Rückblick: Taja, die am 1. Oktober 16 Jahre alt geworden ist, flüchtete mit ihrer Mutter Tatjana und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Anastasia von Odessa über Moldawien, Bulgarien, Tschechien und Ungarn nach Deutschland – zusammen mit vier weiteren Menschen fuhren sie in einem Kleinbus bis Berlin, wo sie am 8. März eintrafen. „Während der Fahrt hatten alle viel Angst, aber zum Glück auch gar keine Zeit, zu überlegen, was aus uns wird“, sagt sie – und wirkt einen Moment viel erwachsener, als sie mit ihren 16 Jahren eigentlich ist.
Über Berlin, Essen und Dorsten nach Neuenrade
„In Berlin leben schon seit zwei Jahren Freunde von uns“, erzählt Taja. Bleiben konnten sie aber nicht. Die nächste Station war Essen. „Meine Mutter hatte einmal von dieser Stadt gehört, also sind wir dortin – ohne jemanden dort zu kennen.“ Auch da wurden sie nicht aufgenommen. Nach ein paar Tagen in Dorsten, landeten sie am Ende in Neuenrade.
„Bei unserer Ankunft hier waren wir schockiert, wie klein diese Stadt ist“, schildert Taja ihre ersten Eindrücke. „Es dauerte einen Monat, aber jetzt mag ich Neuenrade wirklich sehr gerne.“
Der Vater rät von einer Rückkehr ab
Länger habe es gedauert, bis sie den Plan, schnell wieder zurück in die Ukraine zu reisen, aufgaben. „Meine Mutter, meine Schwester und ich vermissten meinen Papa so sehr. Doch er hat uns am Telefon immer gesagt: ,Nein, Ihr müsste dort bleiben.’“
Anfang Dezember teilte er bei einem Anruf dann mit, dass er sich bald aufmachen werde zu seiner Familie im Sauerland. „Am 8. Dezember abends um Sieben saßen meine Mutter, meine Schwester und ich beim Abendessen, als es an der Tür klingelte“, schildert Taja den Tränen nah. Denn als sie die Wohnungstür öffnete, schaute sie plötzlich in das Gesicht ihres Vaters Sergej. Die Freunde über das Wiedersehen war grenzenlos. „Das waren Emotionen! Jetzt fühlen wir uns alle besser.“
Einen Monat kein Klavier gespielt
Dann denkt Taja zurück an ihre Ankunft in Deutschland im Frühjahr 2022: „Am Anfang wussten wir nicht, was wir machen sollten. Wir konnten die Sprache nicht, waren zuvor ja noch nie hier.“ Als Einzige in ihrer Familie, die Englisch spricht, habe sie dem Frauen-Trio bei den ersten Schritten in Neuenrade geholfen. So sei ihre Familie Schritt für Schritt vorwärts gekommen. Doch für sie persönlich waren diese ersten Tage in Neuenrade eine Katastrophe: „Ich hatte schon seit einem Monat kein Klavier mehr gespielt. Ich hatte Angst, alles zu vergessen. Ich dachte, es wäre alles vorbei.“

Taja erzählt schließlich voller Dankbarkeit von Menschen, die hilfsbereit gewesen seien: den Mitarbeitern in der Stadtbücherei, ihren Mitschülern in der Hönnequell-Schule, Bernd Buntenbach, der ihr die Gelegenheit verschaffte, im Kaisergarten Klavier zu spielen, und Heike Lengelsen, bei der sie bis heute mehrfach pro Woche auf einem Flügel spielt.
Außergewöhnliches Talent wird früh erkannt
Vier Jahre alt war Taja, als sie ihren ersten Klavierunterricht bekam. Ihre Lehrerin erkannte ihr außergewöhnliches Talent und so kam sie zwei Jahre später an die Musikschule. „Und mit sechs Jahren wusste ich dann, dass das mein Beruf werden soll“, erklärt die 16-Jährige. Zuhause in der Ukraine habe sie dank ihrer professionellen Ausbildung bereits Konzerte gegeben – „auch schon vor vielen Menschen, aber nie vor so vielen wie hier im Kaisergarten“, sagt sie stolz.
Taja ist kaum ein Jahr hier – und noch immer prasseln die neuen Eindrücke auf sie ein. Derzeit befindet sie sich etwa in den Vorbereitungen für eine Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Köln, die am 13. Februar ansteht. Wenn sie diese besteht, wird sie einen Tag pro Woche dort – mit dem Segen ihrer Lehrer an der Hönnequell-Schule – eine Art Vorstudium absolvieren. „Wenn ich dann mein Abitur habe, studiere ich Musik in Köln“, hat Taja klare Pläne.
An das Klima im Sauerland gewöhnt
Mittlerweile hat sie sich an das Klima im Sauerland gewöhnt, sagt sie: „Odessa liegt am Meer. Und hier gibt es Berge und viel Wald.“ Sicher habe sie vor dem Krieg schon vorgehabt, „einmal in Europa Musik zu studieren“, aber so habe sie es sich nicht vorgestellt „und ich wollte auch nicht so schnell schon hierher“.
Nun sei sie aber da „und ich muss meinen Weg weiter gehen“, ist sie ehrgeizig. Diese Ernsthaftigkeit zeigt sich weiterhin, wenn sie plaudernd erzählt: „Meine Mutter hat früher auch Klavier gelernt an einer Musikhochschule – aber nur sieben Jahre. Bei ihr war das also bloß ein Hobby.“
In der 9. Klasse auf der Hönnequell-Schule
In der Hönnequell-Schule wiederholt Taja derzeit die 9. Klasse. In der Ukraine wäre sie jetzt Zehntklässlerin. „Und da wir nur elf Klassen dort haben, kann ich manches schon, was wir hier jetzt im Unterricht machen.“ Aber so könne sie in aller Ruhe die deutsche Sprache lernen – und eben problemloser einen Tag in der Woche fehlen, wenn sie in Köln Klavier spielt.
Privat hört Taja übrigens auch gerne Pop- und Jazzmusik, „am liebsten alte Sachen aus den 70er- und 80er-Jahren“, verrät sie. Dann betont sie aber sogleich: „Doch klassische Musik ist mir dann doch lieber.“
Die Freundinnen sind in der Welt verstreut
Ihre Freundinnen aus der Ukraine seien durch den Krieg in der Welt verstreut – in den USA, in Israel und in Dänemark. Doch übers Handy habe sie zu ihnen weiterhin regelmäßig Kontakt. Dennoch: Die alten Freundinnen seien es, die sie hier in Deutschland manchmal am meisten vermisse – jetzt, da ihr Vater wieder mit der Familie vereint sei.
Taja wirkt unbeschwert, wie sie so spricht, aber plötzlich sagt sie: „Selbst, wenn ich einmal nicht daran denke, schaue ich auf mein Handy – und dann sehe ich da so viele Nachrichten von zuhause, Berichte von all den Bomben.“ Zwar wolle sie mittlerweile in Deutschland bleiben, um hier zur Pianistin ausgebildet zu werden, „aber wenn alles vorbei ist, will ich doch noch einmal nach Odessa, um zu sehen, was noch da ist“. Sie lächelt gequält, hebt jedoch sofort wieder die Schultern und stellt fest: „Ich kann den Krieg ja jetzt nicht in Schockstarre abwarten. Ich muss mich ja weiterentwickeln.“