„Ein Auge für die kleinen Wunder der Natur“: Waldkindergarten feiert 25-Jähriges

1998 – vor 25 Jahren – endete die Ära Kohl, das ICE-Unglück in Eschede erschütterte Deutschland und in den USA brachte die Lewinsky-Affäre den Präsidenten Clinton in höchste Bedrängnis. In Nachrodt-Wiblingwerde gab es auch jede Menge Gesprächsstoff.
Der Waldkindergarten wurde eröffnet. Heute längst etabliert und geschätzt, rief er damals einige Skeptiker auf den Plan. Ein Interview mit Leiterin Marina Hoheisel.
Der Waldkindergarten Wiblingwerde feiert sein 25-jähriges Bestehen. Wie wird das große Ereignis denn gefeiert?
Wir feiern am Sonntag, 7. Mai, von 13 bis 17 Uhr auf dem Gelände des Waldkindergartens. Wir beginnen mit einer kleinen offiziellen Begrüßung und im Anschluss gibt es noch eine kleine Vorführung von den Kindern. Thematisch wird sich alles rund um das Thema Bienen drehen. Dabei werden wir unter anderem vom ansässigen Imkerverein unterstützt, der Honig verkaufen wird, das Gut Sassenscheid verkauft Insektenhotels, die von den Bewohnern gebaut wurden, der Hegering kommt mit der rollenden Waldschule, der Puppenspieler Werner Vogell wird für Unterhaltung sorgen, es werden Kerzen aus Bienenwachs gerollt und die Kinder können sich schminken lassen. Natürlich ist auch für das leibliche Wohl bestens gesorgt. Der Heimat- und Verkehrsverein versorgt uns mit Zelten, sodass niemand im Regen stehen muss, falls das Wetter nicht so ganz mitspielt.
Seit 2006 gehören Sie zum Team, haben 2019 die organisatorische Leitung übernommen. Was ist für Sie das Besondere im Waldkindergarten?
Die Arbeit mit Kindern in der Natur ist das, was mich damals hierhin gezogen hat. Durch die Kinder bekommt man wieder ein Auge für die kleinen Wunder der Natur, wie zum Beispiel die erste Knospe am Baum, die sich öffnet, oder eine Ameise, die eine Fliege transportiert. Wir brauchen hier auch keinen Bewegungsparcours in der Turnhalle aufzubauen, damit die Kinder lernen, sich auf unterschiedlichen Untergründen zu bewegen, das passiert im Wald ganz natürlich und alltäglich. Was mich im Waldkindergarten gehalten hat, ist das Team, in dem ich arbeiten darf. Das ist über die Jahre zu einer zweiten Familie geworden.
Wenn Sie das waldpädagogische Konzept in drei Sätzen zusammenfassen müssten, wie würden die Sätze lauten?
Wir glauben daran, dass die Fantasie und Kreativität der Kinder durch die Vielfältigkeit des Waldes angeregt und gefördert wird. Die körperlichen Grenzen, aber auch die Entwicklungsfortschritte werden unmittelbar erlebt. Und wir glauben daran, dass der Gebrauch der Sinne und das damit verbundene Erleben das Selbstwertgefühl stärkt und emotionale Stabilität gibt. Die Kinder bekommen einen unverfälschten Blick auf die Natur, das Erleben und Begreifen, der behutsame Umgang mit jeder Art von Leben wird gelernt.
Die Jahreszeiten mit allen Sinnen erleben steht im Vordergrund, nicht wahr? Sind die Kinder immer draußen, in der Natur? Und was macht das mit den Mädchen und Jungen?
Die Jahreszeiten mit allen Sinnen zu erleben passiert hier nebenbei. Wir sind jeden Tag draußen, es sei denn, Sturm oder Gewitter zwingen uns ins Haus. Dadurch sind die Kinder einfach ausgelastet.
Gibt es feste Strukturen oder macht das freie Spielen und Erleben den Hauptanteil aus?
Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich würde eher sagen, es gibt feste Strukturen mit viel Raum zum freien Spielen und Erleben. Natürlich haben wir Strukturen und feste Abläufe. Das gibt den Kindern zum einen Sicherheit und zum anderen müssen sie ja auch lernen, Strukturen und Regeln einzuhalten. Also es ist nicht so, dass die Kinder kommen, den ganzen Tag im Wald spielen und dann wieder gehen. Der Tag startet mit der Bringzeit zwischen 7 und 8.45 Uhr. Wenn die Kinder kommen, gehen sie direkt einmal in den Waschraum auf die Toilette und zum Händewaschen. Dann gibt es mehrere Angebote hier am Platz. Es kann frei gespielt werden oder an einem Kreativangebot teilgenommen werden. Um 9 Uhr wird aufgeräumt und wir treffen uns zum Morgenkreis. Wir singen unser Begrüßungslied und hier geht es auch immer um ein Thema. Aktuell sind es Bienen. Danach geht mit dem Bollerwagen in den Wald. Dort werden erneut die Hände gewaschen, wir setzen uns ins Frühstücksnest, singen unser Frühstückslied und beginnen gemeinsam zu essen. Während des Essens lesen wir eine Geschichte vor. So ist die Zeit des Frühstücks bewusst eine ruhige Zeit. Danach wird gespielt und der Wald mit allen Sinnen erkundet. Wir haben verschiedene Waldstücke, die unterschiedliche Möglichkeiten und Anregungen bieten. Ergänzt wird die Zeit mit pädagogischen Programmen zu verschiedenen Schwerpunkten. So gehen wir mit Lupen auf Entdeckungsreise, bauen Dinge mit den Kindern oder bieten Bewegungsanreize. Es gibt für die Kinder aber auch immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, um beispielsweise zu malen. Um 12.30 Uhr sind wir zurück am Kindergarten und bilden gemeinsam den Abschlusskreis. Die Kinder, die vor dem Essen abgeholt werden, gehen und die anderen treffen sich zum Mittagessen. Also ja, es gibt feste Strukturen, aber eben auch viel Raum für eigene Entdeckungen.
Ist der Waldkindergarten eigentlich für jedes Kind geeignet?
Da gibt es ein klares Jain. Aber gewiss für die meisten Kinder. Wichtig ist die richtige Kleidung. Kinder, die frieren oder schnell nass sind, können keine Freude am Spiel haben. Viele denken auch, wenn das Kleinkind keine Matschhände haben möchte, ist es hier falsch. Das ist Quatsch. Hier wird ja niemand gezwungen, im Matsch zu spielen. Ich bin überzeugt, dass der Kindergarten viele Vorteile bietet – auch für sehr sensible Kinder. Denn es ist beispielsweise viel ruhiger als in einem Regelkindergarten. Die Schallbelästigung ist viel geringer. Natürlich gibt es Kinder, für die das nichts ist. Aber das sind sehr, sehr wenige. Um ehrlich zu sein, sind es eher die Eltern, denen das Konzept vielleicht nicht zusagt und die sich schwer mit viel Dreck tun. Abgesehen davon sind natürlich die Betreuungszeiten ein Thema, die sich einfach nicht jede Familie erlauben kann.
1998 war die Einrichtung fast eine Sensation. Es gab aber auch kritische Stimmen. Was waren denn die Sorgen derjenigen, die damals skeptisch waren?
Puh, das war ganz unterschiedlich. Es gab natürlich viel Skepsis, die Kinder bei Wind und Wetter rauszuschicken. Auch war fraglich, ob das Konzept Elterninitiative funktioniert und natürlich, ob es überhaupt eine Nachfrage gibt. Die Vorbereitung auf die Schule war auch immer wieder ein Thema. Inzwischen sind die Kritiker jedoch verstummt.
Von Kindern, die gerade in die Schule kommen, wird heute schon einiges erwartet: Ausschneiden, Ausmalen, still sitzen, Konzentrationsfähigkeit: Kommen sie dann von der schönen Welt des Waldkindergartens in die Maschinerie, die sie erst mal so nicht kennen?
Eine Frage, die oft kommt. Unsere Kinder stehen den anderen in Nichts nach. Denn auch hier wird still gesessen und gemalt und gebastelt. Vielleicht wird bei uns sogar noch etwas mehr darauf geachtet. Da die Phasen, wo wir uns gemeinsam einer Sache widmen, sehr intensiv und bewusst ruhig gestaltet werden. Wie ich bereits oben bei den Strukturen erwähnte, ist es eigentlich vom Rahmen her gar nicht so unterschiedlich – außer dass wir unter freiem Himmel sind. Die Vorschulkinder haben ebenso ein Programm wie beispielsweise im evangelischen Kindergarten.
Es gab in den Anfängen nur zwei Bauwagen mit Gasbeleuchtung. Heute ist es viel komfortabler oder? Und ist das nicht mehr wegzudenken?
Ich würde sagen, ja, es ist nicht mehr wegzudenken. Andererseits ist zu viel Luxus auch nicht gut. Denn im Konzept ist das ja ganz bewusst so verankert, dass es kein Gebäude im eigentlichen Sinne gibt, sondern lediglich Schutzräume für extreme Witterungen. Aber ich denke, zurück zu den Anfängen möchte niemand mehr. Ein bisschen kuschelig und modern darf es schon sein.
Würden heute Eltern noch die Toiletten mit nach Hause nehmen und Wassertanks zur Einrichtung schleppen?
Ja. Heute werden zwar keine Wassertanks mehr geschleppt, aber Wasserkisten. Denn die Eltern kaufen ein. Man muss aber auch sagen, dass sich die Zeiten geändert haben und vielen Eltern schlicht die Zeit fehlt.
Ist die Mitarbeit der Eltern mehr als in anderen Einrichtungen gewünscht und erhofft?
Ja, das ganze Konzept ist auf die Mitarbeit ausgelegt. Nicht mehr so krass wie früher, aber immer noch ist das fester Bestandteil des Betreuungsvertrags. Jeder muss mithelfen. Dabei können jedoch individuell auch die Stärken eingebracht werden. Es gibt organisatorische Dinge, es muss eingekauft werden, es gibt handwerkliche Dinge, die gemacht werden müssen, und natürlich muss auch das Gelände gepflegt werden. Ohne die Eltern geht es nicht. Das wäre für so eine kleine Einrichtung gar nicht zu stemmen. Das weiß aber auch jeder, der sein Kind hier anmeldet.
Viele Eltern wünschen sich aufgrund ihrer Berufstätigkeit eine Ganztags-Betreuung. Die gibt es aber noch nicht im Waldkindergarten, oder? Gibt es Überlegungen, die Zeiten zu verlängern?
Nein. Es wird auf absehbare Zeit keine Ganztagsbetreuung geben. Mit einer eingruppigen Einrichtung wäre das schwer umzusetzen. Es gibt strenge Vorgaben dafür und zudem auch nur ein gewisses Kontingent für Nachrodt-Wiblingwerde. Das zu erklären, wäre hier zu kompliziert. Also gibt es nur ein knappes: Nein, es wird keine Ganztagsbetreuung geben.
In den vergangenen Jahren hat es ein Umdenken gegeben, viele Menschen erkennen die Natur längst als wichtiges Gut, Waldbaden ist beispielsweise in aller Munde. Spüren Sie, dass die Akzeptanz für Ihre Arbeit heute viel größer ist als noch vor 20 Jahren?
Ich glaube, gerade seit Corona ist vielen Menschen bewusst, was für ein toller Raum der Wald ist, um sich als Kind zu entfalten. Kinder haben einen natürlichen und schier unbändigen Bewegungsdrang. Diesen können sie bei uns stillen. Wer ausgetobt ist, kann sich aber auch besser konzentrieren. Ich glaube, viele Leute wissen, dass Gehirn und Körper beide Bedürfnisse haben und dass man das Beste aus sich herausholen kann, wenn beiderlei Bedürfnisse gestillt sind. Das Waldbaden, das Sie ansprachen, machen viele ja auch, um Stille zu erleben. Bei uns gibt es keine Wände, der Schall kann entweichen. Wir haben keine Türen und Wände. Dass macht es für die Kinder einfach stressfreier. Ob die Akzeptanz größer ist als zuvor, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass vielen Menschen klarer ist, was ein Tag im Wald mit einem macht und wie positiv die Zeit in der Natur auf einen Menschen – und gerade auf ein Kind – wirkt.
