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Nazis in jeder Stadt und Gemeinde

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Von: Susanne Fischer-Bolz

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„Der Sturz der Demokratie im heutigen Märkischen Kreis“, heißt die Broschüre, die Stadtarchivare und Lokalhistoriker – hier Matthias Wagner, Ira Zezulak-Hoelzer, Friedrich Petrasch und Rolf Breucker (v.l.) – herausgebracht haben.
„Der Sturz der Demokratie im heutigen Märkischen Kreis“, heißt die Broschüre, die Stadtarchivare und Lokalhistoriker – hier Matthias Wagner, Ira Zezulak-Hoelzer, Friedrich Petrasch und Rolf Breucker (v.l.) – herausgebracht haben. © Fischer-Bolz, Susanne

Eine Sturmabteilung (SA) in Nachrodt, die brutal gegen Gegner der NSDAP vorging? Unvorstellbar. Und doch: Man versammelte sich zum Sturmdienst und Sturmappell, marschierte von Nachrodt zum Schießstand nach Lasbeck.

Es gab Wohnungsdurchsuchungen und am 10. Mai 1933 auch Bücherverbrennungen auf dem heutigen Gelände der Lennehalle. Tatsächlich fand der Sturz der Demokratie nicht nur in Berlin und Düsseldorf statt, sondern auch in der Gemeinde und im gesamten heutigen Märkischen Kreis. Schwere Kost, gut verpackt: Das ist das Werk, das Stadtarchivaren und Lokalhistoriker herausgebracht haben – zum 90. Jahrestag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Das Dokumentationsheft wurde von den „Ge-Denk-Zellen“ Lüdenscheid initiiert und wird für Zehntklässler aller Schulen des Märkischen Kreises zur Verfügung gestellt. Es ist ein sachlicher Blick in die dunkle Geschichte. 5000 Exemplare gibt es – aus allen Städten des Kreises wird berichtet. Zu den Autoren gehört auch der Nachrodter Friedrich Petrasch. Vor einem Jahr hat das Team mit der Recherche begonnen. „Ich konnte bei mir selber abschreiben“, erzählt Friedrich Petrasch schmunzelnd. 1990 hatte er einen Aufsatz über die Machtergreifung in Nachrodt veröffentlicht. Die Geschehnisse in Altena hat er neu bearbeitet, dabei auch auf das Altenaer Kreisblatt zurückgegriffen. Und auch das Stadtarchiv bot einen riesigen Fundus.

Eine Einladung zur Versammlung in Lüdenscheid zur Verleihung der Ehrenbürgerrechte an Adolf Hitler.
Eine Einladung zur Versammlung in Lüdenscheid zur Verleihung der Ehrenbürgerrechte an Adolf Hitler. © Fischer-Bolz, Susanne

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ging in der Burgstadt der Umschwung in Windeseile voran. Im April 1933 wurde ein Boykott jüdischer Geschäfte organisiert. Vor dem Kaufhaus Heinemann wurden Verkäuferinnen und Käufer am Betreten des Geschäftes gehindert. Der Fahrer der Familie wurde schwer misshandelt. Das Kaufhaus konnte sich trotzdem bis zur Reichspogromnacht im November 1938 halten. Anders erging es der Metzgerei Wolff in der Nette, die 1934 aufgeben musste.

Valbert als Nazi-Hochburg

Aus Meinerzhagen berichtet Stadtarchivarin Ira Zezulak-Hoelzer, dass bereits im Januar 1932 die jüdische Synagoge in der alten Knocheschen Fabrik mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. 4. 1933 konnten jüdische und politisch missliebige Beamte aus dem Dienst entlassen werden. Ein Mittel zur Entmachtung der politischen Gegner war deren Verhaftung, einfache Polizeibeamte konnten Einweisungen in Konzentrationslager anordnen – und taten das auch. Übrigens: Besonders Valbert war eine Nazi-Hochburg.

Keine Bleiwüste

„Wir haben versucht, das Heft ansprechend zu machen, so dass auch ein Jugendlicher sagt: ‘Das ist nicht nur eine Bleiwüste, ich gucke gerne rein’“, sagt Matthias Wagner, der das Jahr 1933 in Lüdenscheid, Plettenberg und Hemer vorstellt. Der ehemalige Lehrer erzählt: „Ich habe im Unterricht lange Zeit bis 1985 nur von dem erzählt, was in Berlin und Auschwitz war, aber nicht, was vor Ort passiert ist. Als wenn man keine Lokalgeschichte gehabt hätte. Das kam einfach nicht vor.“ Doch es ist die Basis, die wachsam sein muss. In der Weimarer Republik war eben diese Basis nicht informiert genug, „mächtige Kreise haben sie zu Fall gebracht. Das haben wir ausgearbeitet“, sagt Rolf Breucker, der die Demokratie als Ganzes im Dokumentationsheft betrachtet. Dabei wird auch sehr deutlich, dass Demokratie auch heute nicht selbstverständlich ist, sie nicht vom Himmel fällt. „Demokratie muss in jeder Generation neu geboren werden und Bildung ist ihre Hebamme“ wird der amerikanische Philosoph John Dewey zitiert.

Auch die Experten haben Neues erfahren

Auch die Autoren des Heftes, allesamt Geschichtsexperten, haben bei ihren Recherchen noch Neues erfahren. „Und ganz viel dazugelernt“, sagt Matthias Wagner. Er hätte nicht gedacht, dass schon Schulabgänger, die am 1. April 1933 in die Lehre gingen, nicht mehr die Weimarer Verfassung erhielten. Stattdessen sei es um den Erzfeind Frankreich gegangen und den Vertrag von Versaille, der weggemacht werden müsse. Nach dem Ersten Weltkrieg instrumentalisierten bekanntlich demokratiefeindliche Kräfte den Versailler Vertrag für ihre Hetze gegen die Weimarer Republik. „Die jungen Menschen sollten ideologisch in die richtige Zukunft gebracht werden, das fand ich sehr frappierend und hätte es auch nicht gedacht, dass man das so schnell hinkriegt“, erklärt Matthias Wagner.

Wer sich nicht fügte, wurde in Haft genommen

Übrigens: Während vielerorts die Menschen mit normalen Zügen zum großen Sammelpunkt nach Dortmund und von dort aus in Vernichtungslager geschafft wurden, wurden Lüdenscheider mit Lkw-Touren transportiert. Wer sich nicht fügte, wurde in Haft genommen. Im Juni 1933 wurde die SPD in Lüdenscheid verboten. Zuvor hatte sie nicht dem Antrag der anderen Parteien folgen wollen, Hitler zum Ehrenbürger der Stadt zu erklären. Anschließend lösten sich die anderen demokratischen Parteien auf. Nun gab es nur noch die NS-Diktatur. Für die nationalsozialistische Kommunalpolitik hatte der Plettenberger Jura-Professor Carl Schmidt die Rechtsgrundlage des Führerprinzips geschaffen: „Der Führer setzt das Recht.“

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