Langer Weg zum Glück: Eine Pflegefamilie berichtet

Mama kam einfach nicht wieder. Holte sie nicht aus dem Kindergarten ab, sondern verschwand. Ein kleines Mädchen ganz allein. Doch das Schicksal hat es im zweiten Anlauf gut mit ihr gemeint.
Nachrodt-Wiblingwerde – Lucy hat ein neues, liebevolles Zuhause gefunden: bei Saskia, Stefan und Lilly Gäthke. Dies ist die Geschichte von einer Pflegefamilie, die anderen Mut machen kann. Und die Geschichte eines kleinen Mädchens, das jetzt eine unbeschwerte Kindheit erleben darf.
Gemeinde | Nachrodt-Wiblingwerde |
Fläche | 29,03 Quadratkilometer |
Einwohner | 6546 (31. Dez. 2019) |
Gliederung | 7 Ortsteile |
Eine Pflegefamilie aus Nachrodt berichtet: So kam Lucy Lilith zu ihnen
„Im November 2018 rief Frau Baukloh an und sagte: ,Wir haben ein kleines Mädchen’. Da musste ich erst einmal schlucken. Es war so unwirklich“, erzählt Saskia Gäthke, die sofort ihre Mutter und ihren Mann anrief. Ein paar Tage später kam Monika Baukloh vom Pflegekinderdienst des Märkischen Kreises nach Nachrodt und erzählte von Lucy Lillith. Ein Tag, der das Leben der Nachrodter Familie verändern sollte.
Zuvor war jedoch ein Jahr mit vielen Erlebnissen und Anforderungen verstrichen. Denn ein Pflegekind kann niemand von heute auf morgen aufnehmen. „Es gibt immer schwarze Schafe“, sagt Stefan Gäthke, der mit seiner Frau alle Hürden genommen hat – und eben diese Hürden auch richtig findet.
Langer Weg zur Pflegefamilie: Der Alltag ist nicht immer einfach
„Wir wollten immer ein zweites Kind haben“, erzählt Saskia Gäthke. Trotz aller Versuche klappte es nicht. Einen anderen Weg einzuschlagen, war ein Wunsch, der sich langsam entwickelte. „Wir wollten uns erst einmal informieren, ob wir überhaupt eine Chance haben, ein Kind aufnehmen zu können“, erzählt die Nachrodterin.
Das erste Informationsgespräch fand 2017 statt, als die leibliche Tochter Lilly in die Schule kam. Die Familie wurde in Nachrodt besucht. Platz gibt es genug. Der Dachboden ist komplett umgebaut. Anfang 2018 wurde es das erste Mal ernst, als Stefan und Saskia Gäthke an einem Seminar für Pflegeeltern teilnahmen.
„Es waren auch zwei Pflegemütter dabei, die aus ihrem Alltag erzählt haben.“ Ein Alltag, der nicht immer einfach ist. Die Kinder, die in Pflegefamilien vermittelt werden, haben oft schon viel erlebt, sind in vielen Fällen belastet oder sogar traumatisiert. Pflegeeltern zu sein ist eine schöne, lebendige und vielseitige Aufgabe, aber auch eine, für die man eine hohe Belastbarkeit mitbringen muss.
Formalien mit Bravour gemeistert
„Wir haben auch einen Bewerbungsbogen bekommen, haben einen handschriftlichen Lebenslauf geschrieben, mussten ein erweitertes Führungszeugnis bringen und auch schreiben, wie wir selbst aufgewachsen sind.
Im Grunde legt man alles dar. Es geht auch um die Verwandtschaft, welchen Kontakt man hat, welche Schwierigkeiten es gibt. Es ist ziemlich viel, aber ich verstehe die Wichtigkeit von all dem“, sagt Stefan Gäthke. Und natürlich gehört auch die finanzielle Situation dazu. Es gibt die Voraussetzung, dass einer aus der Familie zu Hause bleiben kann, damit die Bindung zum Kind stark werden kann.
Auch soll ein weiterer Kinderwunsch auf jeden Fall zwei Jahre hinten anstehen. Stefan Gäthke arbeitet bei Grohe in Hemer im Schichtbetrieb. Seine Frau ist gelernte Altenpflegerin und hat, bevor Lucy kam, als Haushaltshilfe gearbeitet. Die Formalien, die durchaus einige Interessenten abschrecken könnten, hat das Nachrodter Paar mit Bravour gemeistert. Ob es ein Junge oder Mädchen sein würde, spielte für sie keine Rolle. Wohl aber das Alter: bis drei Jahre, so ihr Wunsch.
Zuneigung auf den ersten Blick
Die Nachrodter Familie sah kein Foto der Kleinen, als Monika Baukloh vom Pflegekinderdienst von Lucy Lillith das erste Mal erzählte. Saskia und Stefan Gäthke sollten erst einmal eine Nacht darüber schlafen, ob sie sich einen ersten Kontakt mit dem Kind vorstellen könnten. Auf weite Sicht. „Wir mussten nicht überlegen“, sagt Stefan Gäthke und schmunzelt.
„Wir haben uns in Meinerzhagen auf dem Marktplatz mit Frau Baukloh und dem Vormund getroffen. Die Bereitschaftspflegemutter ist mit Lucy daher gegangen. Wir haben den Wuschelkopf gesehen.“ Es war Zuneigung auf den ersten Blick. Später folgten viele vorsichtige Kennenlerntage. Die Bereitschaftspflege-Mama wohnt in Olpe. Dorthin fuhren Saskia und Stefan immer wieder. Sechs Wochen lang.
Ob das wohl eine kleine Zicke ist?, fragte sich unterdessen Tochter Lilly, die immer mehr einbezogen wurde. „Irgendwann kam Lucy für ein paar Stunden hierhin.“ Am 18. Dezember 2018 war es endlich soweit: Die dreijährige Lucy blieb. Und verbrachte ihr erstes Weihnachtsfest bei ihrer neuen Familie. Ein ganz langsamer Start ins Glück. Jetzt wird der 18. Dezember jedes Jahr als besonderer Tag gefeiert. Mit einer Benjamin- Blümchen-Torte. „Sie ist ein sehr offenes, fröhliches Kind und hat auch keine schwerwiegende Geschichte hinter sich“, erzählt ihre Pflegemama. Aber sie weiß: Es gibt auch Kinder, bei denen das ganz anders ist.
Richtige Schwestern, richtiger Zoff
„Okay, ich krieg’ jetzt eine Schwester“, erzählt Lilly von ihrer allerersten Begegnung mit Lucy. „Wir haben uns irgendwie schnell wie richtige Schwestern gefühlt“, sagt die Zehnjährige, die bald das Burggymnasium in Altena besuchen wird. Und zu richtigen Schwestern gehört auch der richtige Zoff, der Streit um die Barbiepuppen.
Eine Adoption schließen Stefan und Saskia nicht aus. Im Gegenteil. Lucy möchte schon jetzt gern den Namen der Familie tragen. „Aber wir warten lieber, bis sie selbst entscheiden kann mit 15 oder 16 Jahren“, sagt Stefan Gäthke, wohl wissend, dass die Kinder dann eine andere Phase durchmachen. Zudem muss die leibliche Mutter einverstanden sein.
Kontakt zu ihr gibt es nicht. Das ist nicht möglich. Irgendwann kann das vielleicht anders sein. Lucy hat auch noch einen Bruder, der in einer Wohngruppe lebt. Kontakt zu ihm gibt es regelmäßig. „Der Bruder ist elf Jahre und hat sich immer um sie gekümmert. Ein toller Junge“, sagt Saskia Gäthke.
Und auch gibt es Verbindungen zur Oma, die aber Lucy nicht aufnehmen konnte. Die Sorge, dass die leibliche Mama eines Tages vor der Tür stehen könnte und sich selbst um ihr Töchterchen kümmern will, gibt es durchaus bei Familie Gäthke. „Die Mutter sucht aber keinen Kontakt, ist in eine andere Stadt gezogen.“
Leibliches Kind und Pflegekind stehen auf einer Stufe
Lilly ist eigentlich nicht eifersüchtig. Nur ganz, ganz selten. Es ist schön, die große Schwester zu sein, „aber manchmal auch nervig“, gibt die Zehnjährige zu. Pflegemama Saskia Gäthke achtet darauf, beide absolut gleichzubehandeln. „Es ist unsere“, sagt Stefan Gäthke und macht deutlich, dass die Zuneigung und Liebe zum aufgenommen Kind ebenso groß ist wie zum leiblichen.
„Wir würden sie für nichts wieder abgeben“, ergänzt seine Frau und sagt: „Wir sind froh, dass wir es gemacht haben.“ Lucy wird nicht im Unklaren gelassen, ihr wird nichts verheimlicht. Sie besucht ihren leiblichen Bruder und sie weiß, dass es zwei Mamas gibt: ihre Mama Saskia und die Bauchmama.
„Am Anfang habe ich überlegt, ob es gut ist, dass die Geschwister auseinandergerissen werden und ob wir den Jungen nicht auch aufnehmen können. Aber man hat uns gesagt, dass sich die Kinder aneinanderkoppeln würden und eine Beziehung nur schwer aufgebaut werden könnte“, erzählt Stefan Gäthke. Dafür gibt es jetzt die Besuche. Und so kann auch der große Bruder von Lucy, der sich immer um die Kleine kümmern musste, ein eigenes Leben aufbauen.
Wo komme ich her, wer bin ich? Diese Fragen werden irgendwann kommen. „Das finde ich auch nicht schlimm. Im Gegenteil“, sagt Saskia Gäthke. Vom Pflegekinderdienst MK und von der Jugendhilfe fühlt sich die Familie gut unterstützt. „Wir bekommen auch immer einen Newsletter von der Jugendhilfe. Es gibt auch ein Sommerfest und andere Treffen.“