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„Wir haben noch keine Alarmzeichen“: Matthias Hartig bald der einzige Hausarzt in Nachrodt

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Von: Susanne Fischer-Bolz

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Matthias Hartig (Mitte) eröffnete 1991 seine Hausarztpraxis und möchte weitermachen, so lange es Spaß macht. Teilhaber ist sein Schwiegersohn Julian.
Matthias Hartig (Mitte) eröffnete 1991 seine Hausarztpraxis und möchte weitermachen, so lange es Spaß macht. Teilhaber ist sein Schwiegersohn Julian. © Archiv

Er wollte Pfarrer, Lehrer oder Arzt werden. Pfarrer waren für ihn gefühlt zu alt, Lehrer zu jung, also blieb nur der Arzt. Im Interview spricht Matthias Hartig darüber, wie er zur Medizin gekommen ist, über die medizinische Versorgung in der Gemeinde und stellt Überlegungen an, warum junge Mediziner keine Enzekämpfer in Hausarztpraxen sein wollen.

Nachrodt-Wiblingwerde – Matthias Hartig, der 1991 in Nachrodt seine Praxis eröffnete, ist sehr gerne Hausarzt. Heute fragen ihn viele Patienten besorgt, ob er denn mit jetzt 65 Jahren bald in den Ruhestand gehen wolle. Die klare Antwort: „Nein, so lange es mir Spaß macht und so lange ich es kann, mache ich weiter.“

Prognosen gehen davon aus, dass 2035 in Deutschland etwa 11 000 Hausarztstellen unbesetzt sind. Jetzt wird es ja auch in Nachrodt eng, Dr. Issa wechselt nach Lüdenscheid, hat keinen Nachfolger. Nachrodt gehört jetzt wieder zum Fördergebiet der Kassenärztlichen Vereinigung. Wie beurteilen Sie die Lage?

Im Moment sieht es noch so aus, als ob wir das stemmen könnten, auch wenn das natürlich eine zusätzliche Belastung ist. Wir haben aber noch keine Alarmzeichen. Die ersten Patienten von Dr. Issa haben sich bei uns angemeldet und sind herzlich willkommen. Wir haben ja auch einen Sicherstellungsauftrag, wir sollen die Gemeinde medizinisch versorgen. So ist es auch keine Frage, ob wir Patienten annehmen oder nicht. Das wird immer so dargestellt, ob man sich das aussuchen könnte. Das stimmt so ja nicht. Grundsätzlich ist aber Folgendes bedenklich: Ich habe jetzt gelesen, dass 40 Prozent der Hausärzte 60 Jahre und älter sind. Und da kann man sich ausrechnen, was in ein paar Jahren passiert. Das Problem ist bekannt und die Zahl der Gebiete, die über die Ausbildungshilfen bezuschusst werden, wächst ständig. Jetzt gehört schon Lüdenscheid dazu, das wäre früher undenkbar gewesen

Sie haben die glückliche Situation, dass Ihr Schwiegersohn mit in der Praxis ist. Hat er sich das Arbeiten denn so vorgestellt?

Ja. Er wollte ursprünglich Internist in einer Klinik werden und hat dann bei der Ausbildung in der Klinik festgestellt, dass es doch nicht so schön ist, war dann probeweise bei mir. Es gefällt ihm gut und er ist seit ein paar Jahren Teilhaber.

Anreize schaffen, das ist das große Thema. Aber was würde wirklich etwas bringen? Immer weniger junge Ärzte zieht es wie Sie in die Hausarztpraxen. Woran liegt das?

Das wüsste ich auch gerne. Ich glaube, dass sich die Dinge, die wichtig für Menschen sind, verändert haben. Als ich jung war, war für mich die Freiheit, also die freie berufliche Tätigkeit, das Wichtigste. Heute ist die Sicherheit viel wichtiger. Die jungen Ärzte möchten nicht mehr selbstständig sein, sondern zum Beispiel in einem medizinischen Versorgungszentrum angestellt sein, mit allen sozialen Sicherheiten, die es so gibt, mit einem Acht-Stunden-Tag. Hausarzt zu sein, ist für die Leute nicht mehr attraktiv, obwohl ich das persönlich nicht nachvollziehen kann. Das Bild des einzelkämpfenden, niedergelassenen Arztes, gefällt immer weniger. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn junge Leute wieder in die Praxen gingen, der Trend sich ändern würde, wenn Nachwuchs wieder käme. Aber das ist im Moment nicht zu erkennen.

Ließe sich das mit einer höheren Bezahlung ändern?

Da bin ich skeptisch. Es ist tatsächlich ein bisschen enttäuschend, was in den letzten Jahren passiert ist. Die Ärzte früher haben wirklich wohl zu viel verdient, aber das ist lange her. Wenn wir eine Steigerung von 0,2 Prozent, die wir jetzt bekommen haben, bei einer Inflationsrate von acht Prozent sehen, dann fühlt man sich irgendwie missachtet. Aber trotzdem glaube ich nicht, dass eine bessere Bezahlung wirklich etwas verändern würde. Es ist so, dass die wirtschaftliche Sicherheit nur noch bei einer großen Praxis gegeben ist. Bei einer durchschnittlichen Praxis fällt es schwer, als Alleinverdiener da durchzukommen.

Stimmt es, dass Sie pro Patient mit einer Pauschale bezahlt werden, egal, was der Patient hat, und es nicht darum geht, wie aufwendig die Behandlung ist?

Das Grundprinzip ist so, dass wir Pauschalen bekommen. Für chronisch Kranke liegen diese etwas höher, bei 60 Euro im Quartal, bei Akutkranken bei 40 Euro. Dann gibt es noch im gewissen Rahmen Umsätze dazu, aber auf mehr als insgesamt 60 bis 65 Euro pro Patient pro Quartal kommt man nicht. Und wirtschaftlich hat man verloren, wenn man chronisch Kranke behandelt, dann lohnt sich das nicht.

Also wenn ein Patient mit einer chronischen Krankheit wie Rheuma kommt, dann ist das ein Zuschussgeschäft für Sie?

Ja, weil das System so ist, wie es ist. Dazu kommt noch fast ein Skandal: Unsere Gebührenordnung für privat Versicherte zum Beispiel ist von 1996. Man wehrt sich, uns eine Neue zu geben. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das sind 27 Jahre. Was da an Inflationsausgleich nötig gewesen wäre, kann man sich ausrechnen. Wir müssen auch Personal und Miete bezahlen.

Schauen wir auf diese Kosten. Rechnet sich das denn noch?

Bei einer großen Praxis ja, aber nur mit einer deutlich überdurchschnittlichen Patientenzahl.

Wie sind Sie denn eigentlich zur Medizin gekommen?

Als kleiner Junge wollte ich Lokomotivführer werden, danach, als Jugendlicher, war ich in einer Clique. Ich bin in Iserlohn groß geworden. Und meine Freunde haben immer gesagt: ,Wenn du Probleme hast, musst du zu Matze gehen. Das war ich. Ich habe gemerkt, dass das stimmt, dass die Leute gerne zu mir kamen, wenn sie über was reden wollten. Doch dann sind mir nur Pfarrer, Lehrer und Arzt eingefallen. Pfarrer machen ja nur die älteren, Lehrer nur die jüngeren. Dann blieb nur der Arzt (lacht). Das habe ich dann durchgezogen.

War für Sie eine Hausarztpraxis sofort die einzige Wahl?

Ein klares Ja. Das war mir schon vor dem Studium klar. Eröffnet habe ich die Praxis am 1. April 1991. Dort gab es früher einen kleinen Lebensmittelladen. Es war Zufall. Ich wusste, dass es eine Nachfrage in Nachrodt gab, ich habe bei der Gemeinde angefragt und zwei Tage später ist Herr Richter bei der Gemeinde gewesen, weil er seinen Lebensmittelladen aus Altersgründen aufgeben wollte. Und dann hat das gut gepasst. Ich möchte aber auch betonen, dass es ohne die Unterstützung meiner Frau nicht möglich gewesen wäre. Sie ist Krankenschwester, hat ihren Beruf aufgegeben und hat in der Praxis mitgearbeitet, bis die Kinder kamen.

Was hat sich verändert seit 1991? Sind Sie selbst viel ruhiger als früher?

Auf jeden Fall. Das macht die Erfahrung. Geändert hat sich viel. Früher gab es insgesamt einen Ärzteüberschuss. Es war nicht daran zu denken, sich überall niederlassen zu können. Es gab zum Beispiel in der Dortmunder Innenstadt ein Soll von sechs Internisten und es waren 36 da.

Heute ist man froh, wenn man überhaupt einen Termin beim Facharzt bekommt, oder?

Ja, das hat sich geändert.

Was macht für Sie die Arbeit als Hausarzt aus, sodass Sie glücklich und zufrieden sein können?

Die Arbeit mit den Menschen, die Kommunikation, der Gedanke, dass man ihnen helfen kann, die große Dankbarkeit der Leute. Manchmal hilft es auch, wenn man ihnen nur zuhört.

Eine Kollegin von Ihnen hat jüngst erzählt, dass sie mehr Dokumentation als Patientenarbeit macht. Geht Ihnen das auch so?

Auf jeden Fall ist mir die Versorgung der Patienten wichtiger.

Es gibt Ärzte, die extra deshalb einen Praxismanager eingestellt haben. Sie nicht?

Nein. Es gibt Dokumentationspflichten, die müssen gemacht werden. Aber das macht bei uns jeder ein bisschen.

Sie wohnen auch in Nachrodt. Sind die Erwartungen nicht besonders hoch, wenn die Leute Sie auch bei Festen treffen. Nach dem Motto: „Ich habe Rückenschmerzen. Kannst du mal sagen, was ich habe?“

Ja (lacht), das passiert, deshalb bin ich auch nicht ganz so viel in der Öffentlichkeit unterwegs. Ich muss auch woanders Urlaub machen.

Wie schaffen Sie sich Erholung?

Ich gehe gerne wandern und verbringe gern Zeit mit Familie, Frau und erwachsene Kinder. Ich wandere gern im Sauerland, auch im Münsterland und gucke mir auch im Ruhrgebiet Industriedenkmäler an. Kleine Touren in der Nähe. Das ist sehr wichtig für mich, auch mal ohne Kommunikation zu sein.

Und Sie gehen zum BVB, nicht wahr?

Ja, hat sich das ‘rumgesprochen? (lacht). Ich verwalte seit einigen Jahren eine Dauerkarte eines anderen, der sie aus beruflichen Gründen nicht nutzen kann. Da habe ich sehr viel Spaß dran.

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