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Flüchtlingssituation in Nachrodt: Offizielle Überlastungsanzeige der Gemeinde

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Von: Susanne Fischer-Bolz

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Die Flüchtlingsbeauftragte Sabrina Lippert sagt: „Wir wurschteln uns so durch“.
Die Flüchtlingsbeauftragte Sabrina Lippert sagt: „Wir wurschteln uns so durch“. © fischer-bolz

Wenn Kommunen in eine Lage gebracht werden, in der sie nicht mehr handeln können, wenn diejenigen, die sich kümmern, völlig überlastet sind, wenn Geldzuweisungen nichts bringen, dann ist nicht nur Holland in Not, dann müssen dringend Veränderungen stattfinden. Nur: Welche? Die Flüchtlingssituation spitzt sich zu. Auch in Nachrodt. Die Gemeinde hat eine offizielle Überlastungsanzeige an das Land auf den Weg gebracht.

Nachrodt-Wiblingwerde – Es ist nach Ansicht der Gemeinde nicht kurz vor Zwölf, sondern längst nach Zwölf. Aktuelle Zahlen: Insgesamt leben zurzeit 214 Flüchtlinge in der Doppelgemeinde. Es sind 107 Asylbewerber, zu denen auch 98 Ukrainer gehören. Hinzu kommen 90 Personen, die anerkannt sind, die ihr Verfahren beendet haben, und nun mit einer Wohnsitzauflage in der Doppelgemeinde leben. „Wir müssten 126 aufnehmen, es fehlen demnach noch 36“, sagt die Flüchtlingsbeauftragte Sabrina Lippert. 17 weitere, geduldete Flüchtlinge leben ebenfalls in Nachrodt. Sie sind eigentlich ausreisepflichtig, dürfen aber aus verschiedenen Gründen bleiben, „zum Beispiel, weil man nicht weiß, woher die Person kommt. Oder sie sind aus dem Irak, denn dorthin wird zurzeit nicht abgeschoben“, so Sabrina Lippert.

Ordnungsamtsleiter Sebastian Putz spricht Klartext
Ordnungsamtsleiter Sebastian Putz spricht Klartext © Fischer-Bolz, Susanne

Die Bezirksregierung hat der Gemeinde gerade eine Aufschiebung von Zuweisungen von alleinreisenden Männern bis Juli versprochen. „Aber das löst doch das eigentliche Problem nicht, es verschiebt es doch nur. Bekommen wir dann die doppelten oder dreifachen Zuweisungen? Ich weiß es nicht“, sagt Ordnungsamtsleiter Sebastian Putz. Für jeden Flüchtling, der in die Gemeinde kommt, ist die Verwaltung zuständig. „Wir werden per Gesetz verpflichtet, Obdachlosigkeit zu beseitigen“, so der Ordnungsamtsleiter. Man schicke Menschen bewusst in die Obdachlosigkeit, die dann die Kommune zu beseitigen habe. Die zum Wohnort bestimmte Gemeinde (§ 3 der Verordnung zur Regelung des Wohnsitzes für anerkannte Flüchtlinge) ist verpflichtet, Ausländer aufzunehmen.

„Wohnraum ist erschöpft“

„Da glaubt man, wenn man irgendwelche Förderprogramme aufstellt und den Kommunen ein bisschen Geld gibt, dass sich die Probleme lösen lassen. Leider ist das nicht der Fall. Diese Probleme sind nicht mit Geld lösbar. Unser Wohnraum ist erschöpft.“ Und sollte es noch irgendwo in Nachrodt-Wiblingwerde Wohnungen geben, dann seien sie so abgelegen, dass man die Menschen dort auf keinen Fall in die Einsamkeit schicken könnte. Sebastian Putz: „42 Wohnungen haben wir bereits beschlagnahmt. Das ist ein Riesenverwaltungsaufwand, weil wir quasi Vermieter sind. Das haben wir in der Überlastungsanzeige geschildert.“ Die Lage werde immer dramatischer.
Doch was könnte eine Hilfe sein? Die Aufstellung von Containern, um die Menschen unterzubringen? „Das muss die letzte Lösung sein. Und man muss auch einen Platz dafür haben. Ich wüsste keinen Ort für 50 Personen“, sagt der Ordnungsamtsleiter. Man brauche übrigens dafür auch eine Baugenehmigung. Und wem jetzt die Fläche vor dem Stadion am Holensiepen einfalle: Das seien die Parkplätze für die Turnhalle, das Stadion und das Schwimmbad. Die Unterbringung der Flüchtlinge in den Turnhallen? „Da freuen sich die Schulen und die Sportvereine“, kann sich Sebastian Putz den Aufschrei vorstellen.

Überlastung der Mitarbeiter

Hinzu kommt die Überbelastung seiner Mitarbeiter, die sich „seit 2015 aufopferungsvoll kümmern“. Mittlerweile würden aber die Kräfte schwinden. Mengen an Überstunden würden sich stapeln, Resturlaub werde vor sich hergeschoben. Weitere Einstellungen vorzunehmen sei nicht möglich, weil kein qualifiziertes Personal verfügbar sei. „Es heißt einfach von oben: hier bitte. Mach. Wie? Ist egal“, schimpft der Ordnungsamtsleiter. Dann gebe es wieder irgendwo Krisengipfel, aber man würde das eigentliche Problem nicht verstehen. „Landes- und Bundesregierung müssen die Kommunen vor Ort unterstützen und neue Wege finden“, sagt Sebastian Putz. „Wir sind richtig erschöpft, mit den Kräften drüber“, gibt er zu und findet, dass die Landesregierung die Kommunen im Regen stehen lässt. „Das trifft ja jede Kommune, wir sind nicht alleine“, so der Ordnungsamtsleiter.

SO REAGIEREN DIE BUNDES- UND LANDESPOLITIKER AUF DEN HILFERUF AUS NACHRODT

Mit dem Hilferuf aus Nachrodt-Wiblingwerde hat die Redaktion die heimischen Bundestagsabgeordneten Bettina Lugk (SPD) und Paul Ziemiak (CDU) sowie den Landtagsabgeordneten und CDU-Faktionsvorsitzenden Thorsten Schick konfrontiert.
„Woche für Woche werden in Deutschland steigende Flüchtlingszahlen registriert, und die Kommunen in meinem Wahlkreis stoßen an ihre Grenzen“, sagt Paul Ziemiak. „Als direkt gewählter Abgeordneter unserer Heimat fordere ich den Bundeskanzler auf, endlich seiner Verantwortung gerecht werden und den aktuellen Zuzug von Flüchtlingen zur Chefsache zu machen. Hier darf keine weitere Zeit verloren werden; die Kommunen dringen zu Recht auf schnelle Hilfen und Lösungen. Gemeinden wie Nachrodt-Wiblingwerde sind schon jetzt überlastet. Statt die Kommunen zu entlasten, scheint die Bundesregierung aber zu glauben, man könne das Problem einfach aussitzen und nichts machen. Das ist die Bundesregierung aber den Menschen in meinem Wahlkreis schuldig, die Tag für Tag Herausragendes leisten.“

„Länder dürfen sich nicht einfach wegducken“

Die SPD auf Bundesebene sieht das als Regierungspartei naturgemäß etwas anders: „Die Länder dürfen sich nicht einfach wegducken und ausschließlich nach dem Bund rufen. Auch, wenn alles, was an Unterstützung möglich ist, wir auch möglich machen“ sagt Bettina Lugk. Die Kosten für hilfsbedürftige Geflüchtete aus der Ukraine übernehme der Bund fast vollständig. „Insgesamt belief sich die Bundesbeteiligung an Flüchtlingskosten iim Jahr 2022 auf etwa sieben Milliarden Euro. Hinzu kommen für 2022 etwa 2,6 Milliarden Euro beziehungsweise für 2023 etwa 2 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt für die Integration von Geflüchteten.“ Bund, Länder und Kommunen hätten beim Spitzentreffen am 16. Februar 2023 vereinbart, Fragen zu Unterbringung, Digitalisierung, Integration und Rückführungen bis Ostern 2023 in einer festen Arbeitsstruktur weiter zu besprechen.
„Um den engen Austausch fortzuführen, werden der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder am 10. Mai erneut zusammen kommen“, sagt Bettina Lugk und wirft einen anderen Ball zum Land: „Für den Vollzug des Aufenthaltsrechts und damit für die Durchführung von Abschiebungen sind die Länder zuständig. Von der Bundespolizei haben sie dafür jede Unterstützung. Im Jahr 2022 wurden 12 945 Personen abgeschoben. 5149 wurden unmittelbar nach dem Grenzübertritt zurückgeschoben. Insgesamt gab es damit 18 094 Rückführungen.“

Europäische Steuerung

Landespolitiker Thorsten Schick betont die Unterstützung des Landes: „Die große Zahl geflüchteter Menschen stellt das gesamte Land vor große Herausforderungen. Auf der einen Seite steht die moralische Verpflichtung, den Menschen aus Kriegsgebieten zu helfen. Auf der anderen Seite stößt auch die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft an Grenzen. Nordrhein-Westfalen hilft den Kommunen mit Milliardenzahlungen und größeren Landeseinrichtungen für die Unterbringung von geflüchteten Menschen. Der entscheidende Schlüssel für die Entlastung der Kommunen wäre eine europäische Steuerung der Flüchtlingsbewegung. Da die Bundesländer keine außenpolitischen Befugnisse haben, muss die Bundesregierung handeln. Während der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in der vergangenen Woche mit den Städten und Gemeinden über Lösungswege diskutiert hat, lässt sich Bundeskanzler Olaf Scholz bis zum Mai mit seinem Flüchtlingsgipfel Zeit. So vergrößern sich die Probleme leider noch weiter.“

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