Brieffreundschaft hält seit 66 Jahren

Blaue Häkchen? Die WhatsApp ist gelesen. Der Kontakt im Hier und Jetzt mit Freunden, mit der Familie, mit den Kollegen ist vor allem eines: schnell. Kaum jemand macht sich heute noch die Mühe, fein-säuberlich einen Brief zu schreiben und auf eine lange Reise zu schicken. Schließlich ist die genaue Ankunftszeit ungewiss, die Rückantwort sowieso. Umso bemerkenswerter ist die Brieffreundschaft, die Dr. Reinhard Kirste pflegt, – nämlich seit 66 Jahren mit seinem französischen Freund Jean-Pierre Barinet.
Nachrodt-Wiblingwerde – Begonnen hat die besondere Beziehung, als Franzosen und Deutsche noch als Erzfeinde galten. Nach den verheerenden Kriegen zwischen 1914 und 1918/19, aber auch zwischen 1939 und 1945 mit Millionen Toten schien eine Versöhnung der Völker unvorstellbar. Erst der Élysée-Vertrag, den Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle im Januar 1963 unterschrieben, besiegelte offiziell die Aussöhnung. Was die Politiker versuchten, hatten Reinhard Kirste und Jean-Pierre Barinet damals schon geschafft. Mit Briefen haben sie sich gegenseitig durchs Leben begleitetet und in all den Jahren auch ein paar Mal besucht.

„Ich hatte ab der siebten Klasse in der Oberschule wissenschaftlichen Zweiges Französisch-Unterricht“, erzählt Dr. Reinhard Kirste, der in Berlin aufgewachsen ist. Er hatte eine sehr engagierte Französisch-Lehrerin, die die Brieffreundschaften 1957 ihren Schülern anbot. Berlin war damals Vier-Sektoren-Stadt, es gab einen französischen Sektor und Frankreich war in Berlin wohlgelitten. „Dann kam tatsächlich ein Brief von Jean-Pierre, der erst dachte, dass ich ein Mädchen sei. Aber das hat sich ja dann schnell geklärt und wir haben ganz intensiv geschrieben, ich auf Französisch und er auf Deutsch“, erzählt Reinhard Kirste, der die vielen Briefmarken in einem großen Album aufbewahrt hat. Aus dem Briefwechsel wurde eine Freundschaft, die für den Wahl-Nachrodter, der nächste Woche 81 Jahre alt wird, eine tiefe Bedeutung hat.
Stasi überwacht Liebesgeschichte
Dr. Reinhard Kirste hat Theologie studiert, erst in Berlin, dann in Tübingen, später in Göttingen. Jean-Pierre, ein Jahr jünger, studierte Lehramt in Chaumont. Er hatte einen kleinen Renault und machte sich damit auf den langen Weg nach Deutschland. Das war 1963. „Wir haben Mischmasch gesprochen, das funktionierte ohne Probleme“, erzählt Reinhard Kirste, der ein wahrlich turbulentes Leben geführt hat. Seine Frau stammt aus der DDR. Er lernte sie noch vor dem Mauerbau am kleinen Wannsee bei einer christlichen Jugendveranstaltung kennen. „Da war ich 17 und habe mich verliebt. Doch dann kam die Mauer und wir wurden getrennt.“ Sie schrieben sich Briefe, überwacht von der Stasi. „Die hatten Angst, sie würde fliehen, aber das war zu gefährlich.“ Westberliner durften nicht nach Ostberlin, aber Westdeutsche. Reinhard Kirste verlegte seinen Hauptwohnsitz nach Tübingen und durfte einreisen. „Lauter Schoten sind da abgelaufen“, lacht Kirste in Erinnerung. Die Liebe trotzte allen Stacheldrahtzäunen und 1970 bekam seine Freundin Karin die Ausreisemöglichkeit mit dem Status „Rentnerin“.
„Und dann sind wir geblieben“
„Ich habe sie in Hildesheim abgeholt“, erzählt Reinhard Kirste, der dort mittlerweile als Pfarrer arbeitete. Hochzeit war im August. All diese Erlebnisse erzählte Reinhard Kirste auch seinem französischen Brieffreund Jean-Pierre Barinet. Reinhard Kirste wollte gern im Bereich der Religionspädagogik arbeiten und bewarb sich auf die Stelle des Schulreferenten des Kirchenkreises Iserlohn-Plettenberg. Das war Ende 1975. Seine Frau arbeitete sodann im St. Elisabeth Hospital als MTA. Vom Grundstück in Nachrodt am Hartkopf waren beide begeistert. „Und dann sind wir hier geblieben“, lacht der sympathische Mann, der auch einen Lehrauftrag an der Uni Bochum hatte. Als bei seiner Frau Alzheimer ausbrach, hatte er mit seinem französischen Brieffreund eine Schicksalsgemeinschaft. Auch Jean-Pierre Barinet, Lehrer für Physik und Mathematik, musste Ähnliches mit seiner Frau durchstehen.
Grenzen spielen keine Rolle
2018 haben sich die Freunde das letzte Mal in Nachrodt gesehen. „Wir haben uns nicht sehr häufig getroffen, insgesamt sicher weniger als zehn Mal“, sagt Reinhard Kirste, der aber dennoch die Beziehung als sehr eng bezeichnet. „Es ist eine Freundschaft, bei der die Grenzen keine Rolle spielen. Das, was an Schatten der Vergangenheit über Deutschland und Frankreich fiel, war bei uns nie Thema.“ Briefe, heute aber oft auch E-Mails, werden mittlerweile übrigens immer zweisprachig geschrieben, „dank Google-Übersetzer ist das leichter“, schmunzelt Reinhard Kirste, der auch die Eltern von Jean-Pierre kennengelernt hat, die eigentlich den Grundstock der deutsch-französischen Freundschaft gelegt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie nämlich einen deutschen Kriegsgefangenen für ihre Werkstatt zugewiesen bekommen. Er hieß Franz und wurde so herzlich aufgenommen und behandelt, dass er später, 1951, als es in Deutschland keine Arbeit gab, als Lohnarbeiter zu der Familie gerne zurückkehrte.
