Lese-Krise bei Grundschülern: Schulleiterin in Nachrodt setzt auf Leseförderung

„Von seinen Eltern lernt man Lieben, Lachen, und Laufen. Doch erst, wenn man mit Büchern in Berührung kommt, entdeckt man, dass man Flügel hat“, soll die amerikanische Schauspielerin Helen Hayes einmal gesagt haben. Nur: Was ist, wenn man nicht gut lesen kann, den Inhalt nicht versteht?
Nachrodt-Wiblingwerde – Immer mehr Viertklässler in Deutschland können laut Iglu-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) nicht richtig lesen. Da läuten die Alarmglocken. Auch bei Grundschulleiterin Carsta Coenen? Eigentlich nicht, denn: „Ich kann bei uns keine generelle Verschlechterung feststellen.“ Und doch hat sie die Studie natürlich gelesen. Demnach fehlt jedem vierten Kind das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre.
Die Ad-hoc-Maßnahme: Ab dem kommenden Schuljahr will das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen für alle Schüler nordrhein-westfälischer Grundschulen jede Woche verbindliche Lesezeiten im Rahmen der Stundentafel einführen – und zwar drei mal 20 Minuten pro Woche. Wie genau das umgesetzt werden soll, steht noch nicht fest.
Lesen die Kinder nicht mehr so gern? „Auch das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie es im Elternhaus gefördert wird“, sagt Carsta Coenen. Die Leseförderung ist in der Nachrodt-Wiblingwerder Grundschule übrigens ein Schwerpunkt. „Wir versuchen immer, Leseanreize zu schaffen“, so die Schulleiterin. Alle Klassen machen Lesetests, arbeiten mit dem Antolin-Programm (antolin.de ist eine Art Bibliothek mit Quizfragen, Kinder wählen einen Buchtitel, lösen dazu ein Quiz und verdienen sich Punkte) und machen auch beim Tag des Buches mit.
„Auch die Besuche in der Gemeindebücherei sind wieder angelaufen, an beiden Standorten haben wir einen Leseraum und im Anbau in Nachrodt wurde das Leseangebot erweitert. Da arbeiten wir zum Beispiel auch mit den Lese-Eltern. Zusätzlich haben wir in einigen Klassen jetzt probiert, dass sie mit ihren Patenklassen lesen, also Klasse 1 und Klasse 3 beispielsweise. Manche Kollegen machen zudem Lesespaziergänge mit Lesestationen auf dem Schulhof.“
Das Angebot ist vielfältig, bekommt zudem noch ein „Sahnehäubchen“, denn in Wiblingwerde organisieren Eltern freitags das Leseparadies, in dem sich die Kinder Bücher ausleihen.
Dass die Pandemie ein Riesenproblem für das Thema „Lesen“ war, glaubt Carsta Coenen durchaus. „Vielleicht, weil nicht allen Kindern das Material zur Verfügung stand. Und man muss ja auch über das Gelesene sprechen, wie wir das in der Schule machen.“
Lesen ist fächerübereifend, auch ein Sachkundeunterricht ist ohne Lesen nicht möglich. Carsta Coenen ist sehr gespannt, wie die geplante zusätzliche Lesezeit umgesetzt werden soll.
„Wir bekommen die entsprechenden Details noch vorgestellt. Es gibt immer Phasen, wo es im Unterricht besser passt als an anderen Stellen. Die Frage wird sein, ob es strikt umgesetzt werden muss oder nicht“, sagt Carsta Coenen und findet ein gutes Gleichgewicht von Vorlesezeit, eigenem Lesen und gemeinsamen Lesen wichtig.
„Sollen jetzt alle zusammen lesen?“, fragt sich die Schulleiterin. Und: Werden dann andere Dinge wegfallen? Oder wird die Pflichtstundenzahl angehoben?
Austauschen wird sie sich mit ihrem Kollegium natürlich noch, bevor vor den Sommerferien eine Digitalkonferenz des Ministeriums mit Schulleitungen, Fachberatungen sowie den Schulaufsichten stattfinden soll.
Einige Iglu-Ergebnisse im Überblick
Die Leseleistungen der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland sind seit 2016 gesunken. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland im Mittelfeld. Dies zeigen die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) 2021. Weltweit haben sich insgesamt 65 Staaten und Regionen beteiligt. Einige Ergebnisse im Überblick:
Die Leseleistungen in Deutschland sind gegenüber der ersten Erhebung vor 20 Jahren (2001: 539 Punkte) und gegenüber der letzten Erhebung (2016: 537 Punkte) signifikant gesunken. Die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben erhebliche Auswirkungen auf die Leseleistung gehabt. Die bei Iglu 2021 in Deutschland beobachtete Lesekompetenz ist signifikant niedriger als es ohne Covid-19-Pandemie bei Fortführung des Trends zu erwarten gewesen wäre.
63 Prozent der Schülerinnen und Schüler lesen mindestens eine halbe Stunde täglich außerhalb der Schule. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich hoch (EU: 54 Prozent, OECD: 53 Prozent).
In der Schule wird in Deutschland zu wenig gelesen. Im Durchschnitt werden in Deutschland pro Woche 141 Minuten Unterrichtszeit für Leseunterricht und/oder Leseaktivitäten verwendet (OECD: 205 Minuten; EU: 194 Minuten).
Die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien im Unterricht ist in Deutschland im internationalen Vergleich gering ausgeprägt.
Kinder, die zu Hause (fast) immer Deutsch sprechen, haben Kompetenzvorsprünge gegenüber Kindern, die zu Hause nur manchmal oder nie Deutsch sprechen. Der Kompetenzvorsprung ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im EU- und OECD-Schnitt.