Flüchtlinge aus der Ukraine: Die Angst als ständiger Begleiter

Der 24. Februar 2022 hat ihr Leben geändert: Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs flohen hunderttausende Ukrainer auf der Suche nach Schutz und Sicherheit aus ihrer Heimat. Angst ist seither ihr ständiger Begleiter und prägt den Alltag der Menschen.
Herscheid - Anlässlich des Jahrestages des Ukrainekrieges wollte unsere Zeitung Kontakt aufnehmen zu den Flüchtlingen vor Ort, um ihre Situation, ihren Weg nach Herscheid und ihr Leben hier zu beschreiben. Doch fand sich trotz mehrfacher Versuche keine Person, die aus dem Privaten erzählen wollte.
Der Grund ist ebenso nachvollziehbar, wie erschütternd: Viele Flüchtlinge haben schlichtweg Angst, wollen sich mit ihrer Geschichte nicht in die Öffentlichkeit wagen – aus Furcht, dass sich ihre Erzählungen über das Internet verbreiten und in der Heimat oder von russischer Seite negativ ausgelegt werden könnte. Eine Beschreibung die zeigt, wie angespannt die Lage für die Ukrainer ist, obwohl sie in Herscheid einen sicheren Zufluchtsort gefunden haben.
Persönliche Berichte, die zu Herzen gehen
Hier, in der für sie fremden Umgebung, zählt das Rathaus zu den ersten und wichtigsten Anlaufpunkten. Im Flur vor dem Sozialamt herrscht an den Tagen, an denen die Flüchtlinge ihre Post abholen können, reger Betrieb. Oft bleibt kein Sitzplatz im Wartebereich leer.
In den Büros erhalten die Menschen nicht nur Hilfe bei der Übersetzung von Amtsdeutsch und der Erledigung des notwendigen Schriftverkehrs. „Viele erzählen auch von ihren persönlichen Problemen“, berichtet Mitarbeiterin Diana Knittel von vielen emotionalen Momenten bei den Zusammenkünften. Familienmütter, deren Männer in der Heimat kämpfen, und die sich in der Ferne um die Kinder kümmern, dazu die ständige Ungewissheit sowie Zukunftsfragen: Oft kommen den Menschen die Tränen.
Zahlen belegen Wechsel: Viele Zuzüge aus der Ukraine, aber auch etliche Wegzüge
Zurzeit leben etwa 70 bis 75 Flüchtlinge aus der Ukraine in Herscheid. Kamen zu Beginn des Krieges in erster Linie Mütter mit Kindern in die Ebbegemeinde, so sind inzwischen auch einige Familienväter und alleinstehende Männer in den Unterkünften sowie in privaten Wohnungen untergebracht. Wie ein Blick auf die Zahlen des Märkischen Ausländeramtes zeigt, unterliegt die Situation einem ständigen Wechsel. Demnach erhielt die Gemeinde im April 2022 die ersten neun Zuweisungen. Bereits im Folgemonat waren elf weitere Zuzüge, aber auch zehn Wegzüge aufgeführt. Diese Bewegungen ziehen sich durch das gesamte Vorjahr: So sind in der Liste des Kreises für 2022 insgesamt 129 Zuzüge aus der Ukraine aufgeführt und insgesamt 64 Wegzüge. Die Zahl der Zuweisungen ist derzeit recht konstant. Nach Auskunft aus dem Herscheider Rathaus kommen im Durchschnitt pro Woche vier Flüchtlinge vor Ort an; dabei handelt es sich allerdings nicht ausschließlich um Ukrainer, sondern auch um Menschen aus anderen Regionen, unter anderem aus Russland. Weil die Kapazitäten in den gemeindlichen Unterkünften nahezu erschöpft sind, ist eine Trennung der Nationalitäten nur noch bedingt möglich. Zu Spannungen habe die Unterbringung bislang nicht gesorgt.
Auch den Rathaus-Mitarbeitern gehen diese Begegnungen zu Herzen: Vieles von dem Erzählten nehme man in Gedanken mit nach Hause. Über den Feierabend hinweg setze man sich damit auseinander und verarbeite die Schilderungen, sagt Diana Knittel. Eine Routine stelle sich dabei nicht ein; jeder Arbeitstag sei anders und berge neue Herausforderungen.
Die Kommunikation mit den Rathausbesuchern gelinge mit Händen und Füßen: Falls kein Übersetzer für die Termine gefunden wird und die Flüchtlinge kein Englisch sprechen, dann müssen Sprachprogramme aus dem Internet helfen. Doch die Verständigung funktioniere, wenn auch nicht immer direkt und auf Umwegen.
Aus den Gesprächen mit den Flüchtlingen sowie anhand der im Büro aufgehängten Landkarte werde erkennbar, dass ein Großteil der Herscheider Flüchtlinge aus ähnlichen Regionen stamme. Neben der Hauptstadt Kiew werde häufig auf Mariupol (gelegen im Osten des Landes) und das etwas 230 Kilometer entfernt liegende Saporischschja gezeigt. Diese Städte wurden auch beim Willkommens-Café, zu dem die Gemeinde Herscheid die Ukrainer im April 2022 eingeladen hatte, oftmals genannt.
Geringes Interesse an Zusammenkünften
Bei besagtem Treffen erhielten die Flüchtlinge nicht nur viele Informationen zu den Einrichtungen vor Ort, sie konnten auch die Ehrenamtsbörse kennenlernen. Die freiwilligen Helfer bieten den Flüchtlingen vielfältige Unterstützung an. Zudem wird einmal im Monat zum Café International eingeladen. Dieses werde gut besucht, aber selten von Ukrainern, weiß Diana Knittel, ohne dafür Gründe zu kennen.
Aus Erzählungen wisse sie jedoch, wie schwer den Flüchtlingen die Umstellung falle. Vor dem russischen Angriff führten viele ein harmonisches Familienleben im eigenen Haus oder in einer Doppelhaushälfte. Notgedrungen müssen sie nun in einer gemeindlichen Unterkunft wohnen, die sie sich mit vielen anderen Personen teilen. Die Herscheider Kapazitäten seien nahezu ausgereizt. Erste Unterbringungen im leerstehenden Teil der alten Grundschule am Rahlenberg seien bereits erfolgt. Zudem sei das ehemalige Landschulheim Stucken hergerichtet; bleibt die Zahl der Zuweisungen konstant, soll dieses bald genutzt werden.
Wie sich die Situation weiter entwickele, sei nicht absehbar. „Wir hoffen natürlich alle, dass der Krieg schnell beendet wird“, sagt Diana Knittel, die sich im Sinne der Flüchtlinge und ihrer Familien eine baldige Verbesserung der Situation wünscht. Doch auch für die Mitarbeiter in den Sozialämtern sei eine Beruhigung in der Flüchtlingsbewegung wünschenswert: Denn „wir haben teilweise so viel Arbeit, dass wir gar nicht mehr hinterherkommen können.“