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Fotografien aus der Schenkung von Dietmar Riemann in der Situation Kunst

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Von: Ralf Stiftel

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Dietmar Riemann fotografierte 1979/80 Frauen aus einer Einrichtung für geistig Behinderte in Fürstenwalde, DDR.
Beim Einkaufs-Ausflug fotografierte Dietmar Riemann diese Frauen aus einer Einrichtung für geistig Behinderte in Fürstenwalde. Das Bild ist in Bochum zu sehen. © Dietmar Riemann/ Situation Kunst

Bochum – Ein wenig unsicher blicken sie drein, die Kundinnen im Laden in Fürstenwalde, die das Geld für ihre Einkäufe schon bereit halten. Seife? Shampoo? Ein Handtuch? Ihr Ernst lässt sie ein wenig skurril wirken, aber die Fotografie nimmt die vier Frauen in einer Selbstverständlichkeit hin, in der Respekt liegt. Dietmar Riemann hat die Szene für das Fotoprojekt „Was für eine Insel in was für einem Meer“ festgehalten. Dabei begleitete er von 1979 bis 1980 Menschen in den Samariteranstalten Fürstenwalde. Soziale Fürsorge wie hier für geistig behinderte Menschen war in der DDR oft an christlich getragene Einrichtungen ausgelagert. Sie störten in der Vorstellung einer strahlenden Zukunft des Sozialismus.

Man versteht trotzdem nicht, warum die Machthaber der DDR nicht wollten, dass Riemanns Fotos gezeigt werden. Die Bilder waren nicht kritisch, zeigen keine Missstände, sondern im Gegenteil Fürsorge und eine Normalität. Sie wurden 1986 in einem Buch mit einem Text von Franz Fühmann veröffentlicht, der prominente Schriftsteller diente gleichsam als Türöffner. Und es gab eine Ausstellung in Ost-Berlin, die allerdings nach kurzer Zeit geschlossen und mit einem Ausstellungsverbot belegt wurde.

Eine Auswahl von Dietmar Riemanns Fotos ist im Kubus der Situation Kunst in Bochum zu sehen. Der Fotograf hat der Einrichtung seinen Vorlass geschenkt, der nun in einer ersten Ausstellung vorgestellt wird. Der Bestand umfasst rund 3000 Fotos und füllt eine Lücke in der Sammlung der Einrichtung, wie Kuratorin Eva Wruck erläutert. Fotografie der DDR war hier bislang nicht vertreten. Die Schau „Innere Angelegenheiten. Fotografien von 1975 bis 1989“ fokussiert sich in rund 160 Aufnahmen auf ein Kernthema von Riemanns Schaffen. Der Fotograf, 1950 geboren und in Sachsen aufgewachsen, ist ein Chronist des Alltags in der DDR. Er hatte kurz vor dem Mauerfall die Erlaubnis zur Ausreise in den Westen erhalten. Die Bearbeitung seines Ausreiseantrags dauerte mehr als drei Jahre. Riemann war Mitglied des Verbandes Bildender Künstler der DDR und gut beschäftigter Fotograf. Er konnte arbeiten, aber seine Fotos erfüllten nicht unbedingt die Erwartungen des Staatsapparats. Schon weil er an Orte ging, die kaum jemand besuchte. Serien aus sozialen Einrichtungen waren Langzeitprojekte. Er begleitete den Alltag in einem Seniorenheim über ein Jahr lang. Dadurch war er den Bewohnern so vertraut, dass er den Alltag mit anrührenden Aufnahmen dokumentieren konnte.

In den Jahren vor seiner Ausreise zum Beispiel schuf er die Serie „Wände, Mauern, Zäune und andere Begrenzungen“ (1985–89). Vor allem die Berliner Mauer lichtete er ab, wo sie zugänglich war, zum Teil aus dem Fenster der S-Bahn, wie man an leichten Unschärfen erkennt. Diese Fotos bildeten eine private Chronik, sie konnten nicht gezeigt werden, und es war schon riskant, sie aufzunehmen. Einmal wurde er von einem Mann mit Parteiabzeichen barsch zur Rede gestellt und floh vor ihm und den herbeigerufenen Volkspolizisten.

Doch auch die Bilder von Ost-Berliner Hinterhöfen zeigen immer wieder klaustrophobische Situationen. Auf einem Bild ist ein Baum von hohen Mietshäusern eingeschlossen. Wohl ein Sinnbild für die Befindlichkeit vieler DDR-Bürger. Wer wissen will, wie Tristesse aussieht, bekommt hier reichlich Beispiele von innerstädtischen Brachen, menschenfeindlichen Räumen mit Mauern, an denen der Putz bröckelt, ohne erkennbare Zugänge. Den Zustand der späten DDR las Riemann an Fassaden von Altbauten ab, deren Fenster und Türen zugemauert waren.

Aber der Fotograf hatte auch einen vom Witz geschärften Blick auf absurde Situationen. So lichtete er die allgegenwärtigen Schilder mit Propagandaparolen ab. Auf einem Bild aus Zschoppach (1986) liest man: „Mit Optimismus gehen wir in die Zukunft“. Die Tafel hängt vor einer verwitternden Mauer, davor läuft ein Pfad, den ein windschiefes Gitter von dem Feld voller Unkraut und Müll abgrenzt. Man sieht keinen Menschen und kann sich auch nicht vorstellen, dass sich hierher jemand verirrt.

Eine Serie widmete Riemann Ladenfassaden. In Schaufenstern schlug sich der Mangel nieder in Leere oder in absurd kreativen Designs mit DDR-Fähnchen und Honecker-Bildern. Da hängt im Schaufenster ein Netz, aber die einzigen Fische, die der Laden anbietet, sind die blauen Aufkleber an der Scheibe. Die Fleischerei wirbt mit einer Auslage voller Topfblumen. Immer wieder sind die Rollos heruntergefahren. Den Gipfel markiert ein geschlossener Rollladen mit der Aufschrift: „Es ist offen“.

Aber Riemann dokumentierte nicht nur den Niedergang Ostdeutschlands. Es gibt von ihm auch Bilder, die man kaum in der DDR verorten würde. Eine frühe Serie von der Trabrennbahn in Berlin-Karlshorst zeigt Freizeitsituationen. Und die Skurrilität der Zuschauer mit ihren parallel ausgerichteten Feldstechern ist zeit- und ortlos. Einige Schaulustige steigen auf eine Sitzbank, um besser zu sehen, und sie alle haben ihre Schuhe ausgezogen, wie der zweite Blick offenbart. Den breitbeinig sitzenden Herrn mit Strickweste und polierten Schuhen, den Mann im gestreiften Anzug mit Zigarre hätten auch Riemanns Kollegen Diane Arbus oder William Klein in den USA fotografieren können.

Riemanns Schenkung kann nicht nur von den Kunsthistorikern der Ruhr-Universität erkundet werden, sagt Kuratorin Eva Wruck. Auch Wissenschaftler anderer Fächer wie zum Beispiel die Historiker finden hier aufschlussreiches Anschauungsmaterial.

Bis 2.4., mi – fr 14 – 18, sa, so 12 – 18 Uhr, Tel. 0234/ 322 8523, www.situation-kunst.de, Katalog, Kerber Verlag, Bielefeld, 28 Euro,

weitere Stationen: Kunsthalle Rostock, Kunsthaus Wiesbaden, Willy-Brandt-Haus, Berlin.

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