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„Das Tierreich“ vom Jakob Nolte und Michel Decar wird am Schauspiel Bochum von Friederike Heller inszeniert

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Von: Achim Lettmann

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Radfahren mit Henri Mertens (rechts) und Lennart Hahn
Radfahren mit Henri Mertens (rechts) und Lennart Hahn in der Bochumer „Das Tierreich“-Inszenierung. © Birgit Hupfeld Rottstr.5 44793 B

Was machen Jugendliche in den Sommerferien? Am Schauspiel Bochum setzt ein junges Ensemble zu einer musik- und spielfreudigen Selbstbefragung an. Das Stück „Das Tierreich“ ist einfach vergnüglich.

Bochum – Irgendwie ist ein Leopard-2-Panzer in die Bochumer Kammerspiele geraten. Mit Krachen und Getöse schwebt das Kriegsgerät langsam aus dem Bühnenhimmel. Es ist aber nur ein Requisit im Stück „Das Tierreich“. Platziert von Jakob Nolte und Michel Decar, die das Stück 2013 geschrieben haben. Mit dem Panzer materialisieren Nolte/Decar das Schicksal oder ein unvorstellbares Unglück. Die Schule eines Städtchens wird vom herabfallenden Kettenfahrzeug zerstört. Der Unterricht nach den Sommerferien dürfte gefährdet sein. Aber anscheinend nicht viel mehr.

Regisseurin Friederike Heller lässt sich vom Ukraine-Krieg nicht zu Aktualisierungen hinreißen und ablenken. Wer konnte schon 2013 wissen, dass der Leo-2 nach dem Fall des eisernen Vorhangs wieder wichtig wird – ein Kriegsgerät von 1978. Wichtig sind die 20 Jugendlichen, die sechs Wochen Sommer vor sich haben. Oder anders gesagt: „Es ist aufregend, am Leben zu sein.“ Und so inszeniert Heller in ihrer ersten Regiearbeit fürs Schauspielhaus Bochum einen temporeichen Trip in die unruhige Phase der Menschwerdung. Eine Lichtshow springt an, ein tanzbarer Elektrosound erfüllt die Sommernacht und mit herrlich impulsiven Auftritten feiern sich die jungen Leute selbst. Der Panzer stört gar nicht.

Richtig groß ist vor allem der Moment, in dem alles möglich scheint. Für jeden geht es voran, aber niemand weiß, wo er landen wird. Diese Unsicherheit verwandeln die Studierenden der Folkwangklasse Schauspiel zu einer unbeschwerten Stopp-and-Go-Performance. Ihre Selbstbefragung ist vor allem aufrichtig, ironisch, amüsant und so selbstreferenziell, wie Erwachsenbildung nun mal sein sollte.

Musiker Peter Thiessen legt mit seinen Pop-Melodien eine optimistische Grundstimmung an. Es ist ein Rhythmus, der niemanden kalt lässt. Die 105 Minuten Spielzeit sind ein Amüsement voller Schauwerte. Sabine Kohlstedt (Kostüme) sperrt Markengarderobe aus. Ihre Textilien sind alltagstauglich und unterfüttern ein wenig die Typisierung. Kohlstedts Bühne ist ein weites Feld, das von Sirko Lamprechts farbigem Lichtdesign situativ geflutet wird. Ein Probenraum fürs Leben und für Träume.

Aber nicht nur für Luftschlösser. So stellt sich Waffennarr Niko vor, mal zu schießen, auf den Sportlehrer, wie bei einem Amoklauf. Babet, eine schwarze Schülerin, wird als einzige beschuldigt das Chinchilla entführt zu haben. Und Klaus, das Mobbingopfer, erfährt früh, dass man ohne Geld verloren ist. Sein Vater ist arbeitslos.

Vor allem spürt man im Stück „Tierreich“ den Coming-of-Age-Versuchen nach. Da sind die Paare mit Babet und Heiner. Sie hofft auf der Decke am See, dass er sie küsst. Es gibt mehrere Versuche voller Scham und Vergeblichkeit. Bei Nele und Lennart gibt es nach zehn Wochen Differenzen, weil ihre Liebe zum Arthouse-Film seine Liebe zu ihr bereits belastet. Und wenn Steffen, der Fußballer, Klaus küsst, könnte sich ein neues Paar finden.

Das Thema Diversität geht ganz in Hellers pfiffigem Figurenkonzept auf. Steffen küsst auch Vanessa beim Flaschendrehen. Mia Kaufhold spielt den blonden Steffen und die flippige Lilli, die mit Miri zusammen gelbe Reclamhefte zerreißt. Maleika Dörschmann ist die kesse Miri und Niko, der sich im Getränkemarkt ausbeuten lässt.

Zehn Darstellerinnen und Darsteller spielen auch das andere Geschlecht. Lennart Hahn, Karl Leven Schroeder, Anna Lepskaya, Maddy Forst, Maurizia Bachnick, Tomte Heer, Johanna Schönwald, nur Henri Mertens gibt seiner Nicole und Vanessa männliche Momente. Insgesamt ist eine klasse Ensembleleistung zu sehen. Wie körperlich das junge Team präsent ist, wie die Figuren durchdrungen und bewegt werden, das ist auch ein Spiel mit dem eigenen Talent.

Diesem Jahrgang zuzuschauen, wird man nicht müde. Und die Sache mit dem Chinchilla, das geklaut, gefangen und ausgesetzt wird, erschließt sich am besten in Bochum.

11., 30., 31.3.; 5., 6.4.;

Tel. 0234/3333 5555; www. schauspielhausbochum.de

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